Der Mann von der Zeitung


Ja, Herr... - Herr Kottitz, ich glaube Ihnen ja, dass Sie nur das Interview veröffentlichen und einen kleinen Artikel schreiben wollen - aber Ihrem Kollegen hatte ich auch geglaubt, und so ein Glaube kann gefährlich werden.
Der Mann kam herein, ohne sich anzumelden. Er hatte gehört, dass ich Hobby-Bildhauer bin.

Was ich von Beruf wäre?
Steuerberater, sagte ich, aber legen Sie doch erst einmal ab.
Dann wollte er meine Arbeiten sehen. Ich zeigte ihm verschiedenes, und er stellte scheinbar belanglose Fragen. Er gewann mein Vertrauen und bekam als erster Fremder meine schönste Arbeit zu sehen: eine Büste meiner Frau, die ich auf das Klavier gestellt und mit einem Tuch abgedeckt hatte.
Höflich fragte er mich, ob er einmal die Abstellkammer sehen könnte, und auch da schöpfte ich noch keinen Verdacht.
Über alles Nebensächliche machte er sich Notizen. Was für Schuhe das da wären?
Die von meiner Frau, aber die hatte sie seit vier Wochen nicht mehr angezogen, seit der Absatz abgebrochen ist. Ich habe ihr längst gesagt, dass sie sie zum Schuster bringen soll.
Warum das Taschenmesser so blutverschmiert aussehe?
Letzte Woche fuhren wir in die Heide. Meine Frau wurde von einer Kreuzotter gebissen, und ich schnitt die Wunde auf und saugte das Blut aus.
Dann läutete es; es war ein Mandant von mir, ein Polizist, der noch nicht dazu gekommen war, seine Uniform auszuziehen. Ich bat den Reporter kurz hinaus, und er machte sich wieder eine Notiz.
Als der Polizist wieder ging, nahm der Reporter die Einladung zum Abendessen erfreut an. Meine Frau legte die Hände in ein Fach des Kühlschranks und trommelte nervös mit den Fingern, bis sie das Gesuchte fand. Auch hier machte sich der Mann eine Notiz.
Am nächsten Morgen suchte ich in der entsprechenden Zeitung nach meinem Artikel. Augenblick, Sie können ihn gleich selber lesen:

STEUERBERATER ALS VAMPIST ENTLARVT
Ehefrau zerstückelt

Gestern Nachmittag klingelte die Polizei bei einem Steuerberater, der ohne weiteres gestand, die Tat begangen zu haben. Die Hände seiner Frau lagen im Kühlschrank, ihren Kopf hatte der Mann auf das Klavier gestellt und mit einem Tuch bedeckt. In der Abstellkammer wurden die Schuhe der Frau gesehen, die seit vier Wochen nicht mehr benutzt worden waren, weiter ein blutverschmiertes Taschenmesser, mit dem der Täter nach eigenen Angaben sein Opfer aufschnitt, um ihr Blut zu trinken.
Nach einer kurzen Unterhaltung ging die Polizei unverrichteter Dinge fort und ließ den Steuerberater auf freiem Fuß. Eine Begründung wurde nicht abgegeben (weiter S. 3).

Vielleicht verstehen Sie mich jetzt etwas besser ...
Aber nein, warum wollen Sie denn schon gehen?
Wollten Sie nicht die Mozartbüste fotografieren? Vielleicht schreiben Sie ja, dass der Schädel des großen Musikers überraschend in Hamburg aufgetaucht ist...


© 6222 RT (1981 CE) by Frank L. Ludwig