Der böse Wirt


Das Mädchen am Nebentisch sah verstohlen zu mir herüber, und deshalb verschanzte ich mich nach der Bestellung hinter der Zeitung und vertiefte mich in die Neuigkeiten, die seit Monaten dieselben und nunmehr schon Altigkeiten waren: Abschaffung des Asylrechts, brennende Flüchtlingswohnheime ("die Polizei schließt politische oder ausländerfeindliche Motive aus"), Deutschland auf dem Weg zum Billiglohnland, Wirtschaftskriege der Vereinten Nationen...
Nun, wenn der Lemming nicht zum Meer kommt, kommt das Meer zum Lemming. Sie stolzierte auf meinen Tisch zu, setzte sich und warf einen Blick in die Zeitung.
"Du studierst den Aktienmarkt?"
"Nein, ich studiere Geschichte."
Sie hob anerkennend die Augenbrauen. "Welche Geschichte?" fragte sie neugierig.
"Die Geschichte vom bösen Wirt.“
Die Antwort schien sie zu verwirren. "Davon habe ich noch nie gehört", erwiderte sie, und so erzählte ich sie: "Es war einmal, und ist noch heute, ein Wirt, der ein gut gehendes Lokal besaß. Viele Menschen aus seinem Dorf kamen regelmäßig zu ihm, und sein Umsatz war entsprechend hoch.
Je mehr Geld er aber machte, desto raffgieriger wurde er. Er wusste, dass am Rand des Dorfes einige reiche Bürger wohnten, die nicht in sein Lokal gingen, sondern sich untereinander besuchten.
Dies missfiel ihm, und so ernannte er sich eines Tages selbst zum Bürgermeister, beschaffte sich ein Gewehr und erließ ein Versammlungsverbot; von nun an war es allen untersagt, sich gegenseitig aufzusuchen, am Gartenzaun miteinander zu sprechen oder sich auf der Straße zu grüßen. Der einzige Ort, an dem man sich unterhalten durfte, war das Lokal, und wer dieses Gesetz zu übertreten wagte, wurde hingerichtet.
So fanden sich schließlich auch die Bürger im Wirtshaus zusammen, die bisher unter sich geblieben waren, und da sie weder Freunde noch Stammkunden des Besitzers waren, hatten sie ein Vielfaches der regulären Preise zu zahlen. Dies führte dazu, dass man den Verzehr in der Gasstätte auf ein Minimum beschränkte, was den Wirt aufs Neue gegen seine neuen Kunden aufbrachte. Immer häufiger kam es nun vor, dass er einen von ihnen vor oder gar in seinem Lokal niederschlug und ihm Geld, Brieftasche, Schmuck und hin und wieder auch ein Kleidungsstück entwendete.
Die nun schon nicht mehr so reichen Gäste gewöhnten sich bald daran, ihre materiellen Werte daheim zu lassen, und während sie sich im Lokal aufhielten, schickte der Wirt seine Frau und seine Kinder hinaus, um ihre Häuser auszurauben.
Die Gäste, die nach kurzer Zeit vollkommen verarmt waren, liefen bald nur noch in Lumpen umher. Sie waren völlig vereinsamt, da sie sich das Wirtshaus nicht mehr leisten konnten und natürlich auch keinen Kredit bekamen; mancher sprach nur deshalb mit seinem Nachbarn, um durch eine schnelle Erschießung dem qualvollen Hungertod zu entgehen.
Doch der Wirt, der ihnen alles genommen hatte, was sie besaßen, gab sich damit noch lange nicht zufrieden. Er ärgerte sich, dass die einstmals zahlungskräftigsten Gäste kein Geld mehr in sein Lokal brachten, und so ging er an einem kalten Wintertag durch das Dorf und steckte die Häuser seiner abtrünnigen Kundschaft in Brand.
Am Abend standen sie alle vor seiner Tür und klopften, bis er sich recht ungehalten am Fenster zeigte.
'Herr Bürgermeister', flehten sie ihn an, 'wir haben nichts zu essen und zu trinken, wir frieren, und unsere Häuser sind abgebrannt. Habt Erbarmen mit uns und lasst uns in Eurem Lokal übernachten.'
'Dies ist ein Wirtshaus und kein Obdachlosenasyl’, erhielten sie zur Antwort. 'Ich kann doch nicht jeden Dahergelaufenen bei mir einquartieren. Seht zu, dass ihr Geld verdient und auch ein Haus bauen könnt, aber lasst mich in Frieden.’
Als er dann sein Gewehr holte, flüchteten viele von ihnen in den Wald, wo Kälte, Hunger und Durst miteinander um den Sieg über das Leben wetteiferten. Wer aber schlau war, der ließ sich vor der Tür des Wirtes erschießen."
"Und wer ist dieser Wirt?" wollte sie wissen.
"Der Wirt heißt Europa."
Sie blickte unentschlossen auf ihre Handtasche, ihre Hände, die sie auf den Tisch gelegt hatte, auf ihr Glas und schließlich auf meine Hände.
"Eigentlich", sagte sie, "interessiere ich mich gar nicht für Politik."
"Das ist aber eine sehr ignorante Haltung", gab ich zu bedenken, "denn Politik bestimmt unser ganzes Dasein. Politik entscheidet darüber, um wie viel Uhr dieses Café schließen muss und ob du eine Wohnung bekommst. Politik entscheidet darüber, wie viel Geld du für deine Arbeit erhältst und wie viel davon du behalten darfst. Politik entscheidet darüber, mit welchem Prozentsatz du die Abgeordneten füttern musst und wie viel deiner Steuergelder auf die Ausrottung der Kurden und Palästinenser verwendet werden. Eigentlich", fuhr ich fort und griff zögernd nach meiner Kaffeetasse, "eigentlich interessiere ich mich auch nicht für Politik."


© 6236 RT (1995 CE) by Frank L. Ludwig