Das verdorbene Weihnachtsfest



Weihnachtsmann (Opa): Hallo, liebe Kinder!
Alma und Jan: Hallo Opa! Du hast gerade den Weihnachtsmann verpasst.
Weihnachtsmann: Ach wie schade. Dann bekomme ich dieses Jahr wohl keine Geschenke.
Alma: Doch, er hat dir welche hier gelassen.
Jan: Er hat gesagt, dass er Verständnis dafür hat, wenn alte Leute nachmittags schlafen müssen.
Peter (ahnungsvoll): Er hat auch eine genauso tiefe Stimme wie du.
Weihnachtsmann: So, hat er das?
Alma: Woher kommt eigentlich der Weihnachtsmann?
Weihnachtsmann: Das ist ganz verschieden.... manchmal kommt er aus der eigenen Familie, manchmal auch von einer Vermittlung. Das ist ein Büro, in dem viele Eltern anrufen, die einen Weihnachtsmann für ihre Kinder haben wollen. Und es rufen auch viele Männer an, die Geld brauchen und deshalb Weihnachtsmänner werden: teilweise sind es junge Männer, die Geld für ihr Studium benötigen, und zum anderen Teil alte, die zu wenig Rente bekommen. Die Eltern bezahlen dann das Geld an das Büro, und das Büro gibt den Weihnachtsmännern ein bisschen davon ab.
Peter: Hast du auch schon für eine Vermittlung gearbeitet?
Weihnachtsmann: Ja, aber das ist lange her. Ich habe damals ein Weihnachtsmannkostüm bekommen, das mir viel zu groß war, und dann musste ich in eisiger Kälte durch die ganze Stadt laufen, während mir ein Schneesturm direkt ins Gesicht blies...
(Schneesturmgeräusche, stapfende Schritte, Türglocke, Öffnen der Tür)
Frau (theatralisch): Seht, Kinder, der Weihnachtsmann ist gekommen!
Junge: Ich denke, er kommt durch den Schornstein.
Weihnachtsmann: Eigentlich schon, aber ihr habt ja den Kamin an, und ihr wollt sicher nicht, dass eure Geschenke verbrennen.
Frau: Kommen Sie doch erstmal rein.
Weihnachtsmann: Danke.
(Schließen der Tür, Knistern des Kamins)
Weihnachtsmann: Na, Kinder, wart ihr denn auch immer schon fröhlich?
Junge (verwirrt): Fröhlich? Du meinst wohl, ob wir brav waren....
Weihnachtsmann: Nein, seid um Himmels Willen nicht brav! Brave Menschen gehen in den Krieg und bringen andere Menschen um, brave Menschen arbeiten sich zu Tode,
Frau (entsetzt): Was... ?
Weihnachtsmann: brave Menschen machen anderen das Leben schwer und helfen der Ungerechtigkeit, ohne es zu bemerken. Aber ein fröhlicher Mensch tut keinem anderen etwas zuleide, und deshalb ist es wichtig, immer fröhlich zu sein!
Mann: Wie kommen Sie dazu, unseren Kindern -
Weihnachtsmann: Ich studiere Wirtschaftswissenschaften.
Jetzt wollen wir mal sehen, was sich eure Eltern für euch gewünscht haben.
(Papierrascheln)
Junge (freudig): Ein Videospiel! Das Christkind hat mir ein Videospiel geschenkt!
Weihnachtsmann: Na, vom Christkind ist es sicher nicht. Von dem hättest du vielleicht ein gutes Buch oder ein Musikinstrument bekommen, aber mit Videospielen hat es bestimmt nichts am Hut.
Mann: Gelesen hat es aber auch nicht.
Weihnachtsmann: Es muss gelesen haben, sonst hatte es wohl kaum mit den Schriftgelehrten diskutieren können.
Frau: Aber damals hat es ja auch keine Videospiele gegeben, sonst hatte es bestimmt eines gehabt.
Weihnachtsmann: Damals gab es auch keine Atombomben. Glauben Sie denn, dass es ansonsten auch damit gespielt hatte?
Mann: So was Hergesuchtes...
Weihnachtsmann: So, und hier ist dein Geschenk... Soll ich es dir auspacken?
Mädchen (zögerlich): Ja.
(Papierrascheln)
Weihnachtsmann: Schau mal, eine Spieluhr.
Mädchen: Pieluhr.
Weihnachtsmann: Wenn du an diesem Band ziehst, kommt Musik.
Mädchen: 'sik.
(Die Spieluhr spielt "Oh du fröhliche")
Weihnachtsmann: So, und jetzt kommen die schweren Sachen. Da haben wir ein Heimwerkerset für den Vater, der sowieso keine Zeit für so was hat...
Und für die Mutter das Größte überhaupt: eine Mikrowelle, damit sich die Hausfrau noch mehr langweilt.
Mann: Unverschämtheit!
Weihnachtsmann: So, und jetzt... (hustet), jetzt ist der Sack leer, und für den Weihnachtsmann ist überhaupt nichts übrig geblieben.
Junge (eifrig): Ich hab dir ein Bild gemalt!
Weihnachtsmann: Das ist lieb von dir. Wenigstens einer, der an mich gedacht hat. (hustet)
Junge: Schau mal, das bist du, wie du durch den Schornstein kletterst, um den art- den fröhlichen Kindern ihre Geschenke zu bringen.
Weihnachtmann (erfreut): Das sind ja schwarze Kinder!
Junge (verunsichert): Zu denen gehst du doch auch, oder?
Weihnachtmann (traurig): Das würde ich gerne. Aber das ist eine weite und teure Reise, die mir niemand bezahlen will. Außerdem bekomme ich für sie auch keine Geschenke.
(Piepen des Videospiels, das bis zum Ende des Stücks anhält)
Mann: Sieh mal, bei diesem Spiel musst du versuchen, die Kreise zu vernichten, aber du darfst keines der Quadrate treffen.
Junge: Mit diesem Ding hier?
Mann: Genau.
(zum Weihnachtsmann:) Sagen Sie, was fällt Ihnen eigentlich ein, sich hier so unmöglich aufzuführen?
Weihnachtsmann: Tausende von Menschen werden heute umgebracht, verhungern und erfrieren - überall auf der Welt, und das im Interesse einiger wohlhabender Amerikaner und Europäer, die in diesem Augenblick das Fest der Liebe feiern. Und der Weihnachtsmann steht zwischen den Fronten: er liefert die Geschenke ab, um wenigstens ein paar Stunden in einer warmen Stube zu verbringen und sich das Studium zu finanzieren, durch das er eines Tages zur Kaste der wohlhabenden Europäer zu gehören hofft.
(Hustet, länger und stärker als vorher.)
Mann: Da mag ja was dran sein, aber das ist doch kein Grund, uns den Heiligen Abend so gründlich zu vermiesen.
Mädchen: Pieluhr.
Weihnachtsmann: Guck mal (hustet kurz), du musst einfach an diesem Band ziehen.
(Die Spieluhr spielt "Oh du fröhliche")
Frau: Schmeiß den widerlichen Typen endlich raus! Wir werden unser Geld zurückverlangen.
Weihnachtsmann (hustet): Was sind Sie von Beruf?
Mann (verunsichert): Lehrer.
Weihnachtsmann: Danke.
Mädchen: Pieluhr.
Weihnachtsmann: Sieh mal, du hältst die Spieluhr mit einer Hand fest und - die Kanten sind aber unheimlich scharf... oh Scheiße!
Junge: Du blutest ja!
Mann: Schnell, ein Pflaster!
Mädchen: Pieluhr.
Weihnachtsmann (energisch): Lass die Finger von der verdammten Spieluhr!
(Mädchen fangt nach kurzer Schrecksekunde an zu heulen und hört bis zum Ende des Stücks nicht auf.)
Frau: Hier, ich habe ihnen ein Pflaster...
Weihnachtsmann: Lassen Sie mich das selbst machen, ich habe Aids.
Frau: Um Gottes willen!
(Weihnachtsmann hustet, immer stärker, würgt dabei, bis er sich fast übergibt, röchelt, wird leiser, wimmernd, bis es ganz verebbt. Für kurze Zeit ist nichts als das Videospiel und das Schreien des Mädchens zu hören.)
Mann: Er ist tot.
Frau: Gehen wir jetzt essen?
(Das Videospiel piept, das Mädchen schreit, die Spieluhr spielt "Oh du fröhliche".)


© 6236 RT (1995 CE) by Frank L. Ludwig