Und das ganze Land kam in den Wald

- eine Reise in die Gegenwart -

(Fragment)


I. Der Gang der Dinge

Es ist nun einmal das Schicksal der Amerikaner, Elend über die Menschheit zu bringen. Wäre Christoph Columbus nur ein wenig zivilisiert gewesen, so wäre er, anstatt diesen schönen Kontinent der Verrohung und seine Bewohner der Versklavung, der Inquisition und der Ausrottung preiszugeben, ein zufriedener Wahlindianer geworden oder hätte zumindest bei seiner Rückkehr nach Europa von seinen haarsträubenden Abenteuern am Rande der Erde berichtet.

Nun, sein Ei war es sicherlich nicht, dass er, kaum zurück in Spanien, jedem Dahergelaufenen von der "Neuen Welt" erzählte und damit den Versagern, den Taugenichtsen, den kriminellen Abenteurern, den gesuchten Schwerverbrechern und den berufsmäßigen Kolonialausbeutern von Staat und Kirche, dem Abschaum Europas eben, den Anstoß gab, dieses Paradies zu überfallen, zu besiedeln und zu vernichten. Die Nachkommen dieses Gesindels nun belehren uns über die großen Taten ihrer Vorfahren, bürden uns eine Neue Welt - Ordnung auf, erklären die ethnisch und geografisch gestaffelten Menschenrechte für allgemein verbindlich und erzählen uns, dass Indianer eine Erfindung von Karl May sind.
Immer wieder entsetzt mich der Gedanke, dass diese Wesen, deren höchste Kulturgüter aus Kaugummi, Coca-Cola und Vernichtungskriegen bestehen, diese Welt beherrschen. Eines dieser Exemplare saß mir gegenüber; die bunten Klamotten, die Turnschuhe und der naive Gesichtsausdruck ersetzten das "I’m an American"-T-Shirt. Nach einiger Zeit klebte er das Kaugummi unter seinen Sitz und fingerte eine Zigarette aus seinem Gepäck. "Excuse me, could you gimme a lite?"
"Wie bitte?" fragte ich, und er schien sich darüber klar zu werden, dass er sich außerhalb seines Sprachgebiets befand.
"Do you speak English?" fragte er dann, und unbesonnenerweise nickte ich. So war meine einzige Chance vertan, ein Gespräch mit ihm zu vermeiden.
Erst wurde über das Rauchen diskutiert, dann über das unvermeidliche Wetter und schließlich über Religion. Im Jahr des Herrn 1959 war ihm, Jonas, beim Fischen der Apostel Petrus erschienen. Er ging über das Wasser auf Jonas zu (ohne dieses Mal wieder zu versinken) und teilte ihm mit, dass in genau vierzig Jahren die Schreckensherrschaft des Tieres, des Antichristen, beginnen würde. Vorher aber würde Christus seine Getreuen zu sich holen, und Jonas sollte als Menschenfischer rund um die Welt reisen, um Buße zu predigen.
Auf meine Frage, wie das Zusichholen konkret aussehen sollte, erfuhr ich, dass die wenigen Auserwählten (natürlich genau 144.000) von einem Augenblick auf den anderen vom Angesicht der Erde verschwinden würden, wie der große Houdini.
Schade, dachte ich, dass Petrus nicht zu mir gekommen ist. So ein lauer Job wäre genau das Richtige für mich.
"Ziehen Sie um?" fragte Jonas plötzlich und blickte auf meinen großen Überseekoffer. "Nein", erwiderte ich.
"Was haben Sie denn da drin?"
"Eine Leiche."
"Wohl noch ein Kind, wie?" Er zwinkerte mir komplizenhaft zu.
"Nein, nein, ein richtiger Mensch. Wir haben ihn bereits zerteilt, um die Stückchen nach biblischem Beispiel an die Verwandten zu verschicken."
In diesem Augenblick zwängte sich die Minibar am Abteil vorbei. Ich trat an die Tür und bestellte einen Kaffee.
Als ich mich wieder umwandte, war der Amerikaner verschwunden. Sein Gepäck war noch da, von seiner Kleidung jedoch fehlte jede Spur. Offensichtlich kommt man nicht nackt in den Himmel.
Ich trank meinen Kaffee und sah aus dem Fenster; Bäume, Seen und Berge liefen eilig daran vorbei. Haltet an, dachte ich, bleibt stehen und lasst mich bei euch sein, nur ein paar Jahrtausende. Sie hörten mich nicht.
Ich lehnte mich zurück und sah auf die Uhr. Was wäre wohl passiert, dachte ich, wenn Jonas gerade unter der Dusche gestanden hätte?

Der Bahnhof lag öde und verlassen, und das an einem Samstagnachmittag. Ich war der einzige, der hier ausstieg, und scheinbar auch der einzige, der jemals seinen Fuß in dieses Stationsgebäude gesetzt hatte. Der Taxistand war leer, der Gepäckschalter geschlossen, und Schließfächer gab es auch nicht. So trug ich meine Koffer in den Ort, der ja nur fünf Kilometer entfernt lag, Ich weiß nicht mehr, was mich bei meinem vorherigen Besuch an dieser Stadt gereizt hatte; ein schönes Gebäude vielleicht, ein sonniger Tag oder das Lächeln eines Mädchens. Ganz gleich, was es damals gewesen war, nun war es fort. Graue Häuser, kalter Regen und grimmige, hässliche Menschen nahmen mich in ihre Mitte, mich, den weltfremden Globetrotter, den naturliebenden Stubenhocker, den einfühlsamen Ignoranten.
Und doch hielt mich etwas. Die Mauern, die Regentropfen, die Gesichter schienen zu sagen: bleib hier, lass uns nicht allein. Du bist willkommen, und unsere Stadt ist nur im Herbst und Winter so trostlos. Abgesehen davon fuhr der nächste Zug ohnehin erst am Montag, und so beschloss ich zu bleiben.
Vor einer kleinen Pension blieb ich stehen und klopfte. Von drinnen hörte ich aufgeregte Stimmen, das Schlagen einer Tür, das Knarren einer Holztreppe und das unverständliche Selbstgespräch eines Greises.
Nach einer kleinen Ewigkeit wurde mir geöffnet, der Alte nuschelte ein "Komm rein" und stellte seinen dürren Körper hinter die Rezeption.
"Name?"
"Steppen."
"Vorname?"
"Wolf."
"Steppen, Wolf" wiederholte der andere, und ich versuchte, einigen Tropfen aus seinem zahnlosen Mund auszuweichen. Erfolglos.
"Zimmer sieben. Vierzig", sagte er und übergab mir den Schlüssel.
"Siebenundvierzig?" fragte ich noch einmal nach.
"Zimmer: sieben. Preis: vierzig", fauchte er mich an. "Erster Stock", fügte er hinzu, als ich bezahlt hatte.
Das Kabuff lag am Ende des Ganges, direkt neben der Kneipe, an der ich gerade vorbeigekommen war. Ich erinnerte mich an das Plakat: "Heute Abend: Damenwahl", stand dort zu lesen.
Durch die Wand hörte ich kichernde Mädchenstimmen, die über Themen wie "Aufreißen" und "Abschleppen" kommunizierten.
Hatte ich Lust? Ja, aber ich wollte nicht gehen. Stattdessen legte ich mich angezogen aufs Bett. Ich hatte Lust, melancholisch zu sein.

Wann ich wieder aufwachte weiß ich nicht. Von nebenan dröhnten Klänge herüber, die jedem Musikfreund die Ohren welken ließen. Aber die Klänge bedeuteten Leben, Jugend und vor allem Frauen. Jetzt war ich so weit: Damenwahl!
Ich wusch und rasierte mich, bereit, mich in den heiteren Trubel zu stürzen. Doch die Party war vorüber; nur einige beschwipste Pärchen hingen noch am Tresen, und ein paar Typen, die an diesem Abend leer ausgegangen waren, gaben sich den Rest. Enttäuscht ging ich hinaus, putzmunter, aber trübsinnig wie zuvor. Ich schlug den Waldweg ein, um ein wenig am See spazieren zu gehen. Die Nacht war mild, wärmer als der Tag, der Himmel war klar, und der Halbmond beleuchtete den Waldsee, die Berge und das Schloss.
Vielleicht war es dieser idyllische Ort, der mich seinerzeit so fasziniert hatte, obwohl ich noch niemals vorher an diesem Platz war.
"Glaubst du, dass du hier glücklich wirst?" fragte eine der Elfen, die mir unbemerkt Gesellschaft geleistet hatten.
"Ich weiß es nicht", erwiderte ich nachdenklich. "Ich bin überall glücklich, und doch eigentlich nirgendwo."
"Weshalb bist du denn so niedergeschlagen?" wollte die Kleine wissen.
"Weil ich überall fehl am Platz bin. Weißt du, die Menschen sind dazu da, zu arbeiten, zu essen und zu schlafen. Ab und an bekommen sie auch Kinder, die ebenfalls arbeiten, essen und schlafen werden. Und ich möchte nun einmal leben."
"Und wie macht man das?"
"Das weiß ich nicht. Das weiß niemand auf diesem Planeten."
Ich setzte mich auf den Waldboden, stützte den Kopf auf meine Hände und weinte.

Am Morgen schreckte mich der Wecker aus dem Bett. Ich sprang auf, machte mich fertig, würgte das Frühstück hinunter, das die Wirtin mir auf den Tisch knallte, und lief zum Arbeitsamt.
Dort zog ich die Nummer 328; gerade wurde die 18 aufgerufen.
Eine halbe Stunde später war ich stolzer Inhaber eines Sitzplatzes und sah, wie alle anderen, gelangweilt zu Boden.
"Guten Morgen", hörte ich plötzlich eine Knabenstimme und hob - durch den unerwarteten Gruß aus meinen Gedanken gerissen - wie alle anderen den Kopf. Es war ein kleinwüchsiges Mädchen, das jetzt mir gegenüber Platz nahm.
Ihre Brust, soweit ich das unter dem Pullover erkennen konnte, unterschied sich kaum von der meinen. Ihr Hals war kräftig, aber nicht zu dick, wurde allerdings durch ein Riesenkruzifix entstellt, die kurzen blonden Haare waren ungepflegt und standen nach allen Seiten ab. Ihre übergroßen Pupillen passten nicht in das kleine Gesicht, ganz zu schweigen von der Hakennase. Die schiefen Zähne wurden von sehr dünnen Lippen umrahmt, und ihr hochgezogener Mundwinkel gab dem Gesicht einen lüsternen Ausdruck. Sie war nicht schön. Sie war nicht sexy. Sie war einfach nur ordinär. Ich wollte sie!
Sie zupfte mit ihren Wurstfingern den kurzen Rock auseinander; dieser Rock war überhaupt das einzige, was auf ihre Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht schließen ließ. Ihre Beine waren kurz, aber irgendwie doch attraktiv, und dazwischen - ich war mir nicht sicher, aber...
"Stimmt", lächelte sie und öffnete die Schenkel, "ich habe nichts drunter. Und rasiert bin ich auch noch!"
Ich kann mich nicht mehr entsinnen, wie ich reagierte. Ich denke, dass mir, wie allen anderen, das Kinn herunterfiel.
Sie deutete mit der langen Nase in Richtung Ausgang. "Die Toiletten sind da hinten", sagte sie. "Komm!"
Ich kam.

So, nun wusste ich also aus erster Hand, dass es auch in dieser Stadt keine Arbeit gab. Das Sozialamt hatte mich mit einem kleinen Vorschuss abgespeist, und ich schlenderte ziellos durch das Einkaufszentrum. An einem Kiosk las ich die Schlagzeilen der Boulevardpresse. Wer hat unsere Tennislady entjungfert? stand da. Finanzminister: Staatsbesuch in Delphi, und Wir wollen keine Fremden mehr bei uns!
Ach, sagte ich mir, jetzt bist du schon im eigenen Land unerwünscht. Das Gefühl blieb, obwohl ich mir im Klaren darüber war, dass diese Überschrift eine andere Bedeutung hatte.
Ich kaufte den Lokalanzeiger und studierte eben den Wohnungsmarkt, als ich sie kommen sah: eine Schar von Regierungs- und Industriesklaven, willenlos nach einer Marschmelodie stampfend, peinlich darauf bedacht, das zu tun, was die Herrschaft befiehlt. Jeder in einem grünen Schlächteranzug, jeder die gleichen marionettalen Bewegungen ausführend, jeder eine feierliche Miene aufsetzend. Noch war es nicht offiziell, aber man wusste, dass sie bald wieder mit ihren amerikanischen Freunden ihre ausländischen Kollegen in deren Heimat ermorden würden.
Das wird niemals enden, sagte ich mir: das Individuum als Eigentum der Regierung. Hätte sich die Lust der Liebenden nicht in Brechreiz verwandelt bei dem Gedanken, das von ihnen gezeugte Leben würde dasjenige so vieler anderer auslöschen?
Dann der Gedanke einzugreifen: der Tod eines Faschisten konnte eine Zigeunerfamilie retten, der Tod eines Soldaten konnte ein asiatisches Dorf retten, der Tod eines Menschen konnte die Vorurteile der anderen retten. Und wieder das naive pazifistische Gewissen, das den Gedanken an Gewalt als Mittel gegen Gewalt sofort abwehrt. Wir Pazifisten werden diese Welt zugrunde richten.
Bei einer der Telefonnummern hatte ich Glück: ich durfte in der Goethestraße ein Zimmer besichtigen. Eine Heinestraße, so versicherte ich mich bei dieser Gelegenheit, gab es natürlich nicht; der antisemitische Konformist bekommt stets den Vorrang vor dem jüdischen Revoluzzer. Eine halbe Stunde später stand ich auf der Matte. Eine in Ehren ergraute Dame hatte sich dreißig Jahre nach dem Tod ihres Gatten entschlossen, sein früheres Arbeitszimmer zu vermieten. Dabei hatte sie eigentlich an einen Beamten oder Büroangestellten gedacht und nicht an einen Gelegenheitsarbeiter, noch dazu einen ohne Arbeitsgelegenheit. Das Blatt wendete sich jedoch, als ich begann, mit ihr über die vielen guten Bücher in ihren Regalen zu fachsimpeln. Ihr Mann sei auch sehr belesen gewesen, sagte sie.
Sie empfahl mir einige Werke, die ich noch nicht kannte; ich könne mich jederzeit aus ihrem Bücherschrank bedienen. Ganz nebenbei setzte sie den Mietvertrag auf: sie hinge sehr an den Erinnerungen, die mit diesem Zimmer verbunden waren. Vermieten würde sie nicht des Geldes, sondern der Wohnungsnot wegen, und die Miete hatte ich direkt auf das Konto eines Kinderhilfswerks zu überweisen. So viel Glück, dachte ich, hatte ich selten bei der Wohnungssuche. Nachdem ich vergebens auf die Frage nach den Damenbesuchen gewartet hatte, holte ich mein Gepäck von der Pension ab, zahlte - da ich nicht schon Mittags ausgezogen war - für eine weitere Nacht und nahm ein Taxi in die Goethestraße.
Mit einiger Mühe schaffte ich sogar den großen Überseekoffer alleine die schmale Stiege hinauf. Anschließend wurde ich von Frau Tischbein, meiner neuen Wirtin, an den Kaffeetisch gebeten.
Ihr seliger Mann, berichtete sie mir, sei ein wahres Arbeitstier gewesen, ohne dass allerdings ihre Ehe darunter gelitten hatte. Als Buchhalter eines Kleinverlages habe er sich stets Arbeit mit nach Hause genommen und nach seinem Ausscheiden immer noch selbst erdachte Konten geführt.
Nun lebe sie seit dreißig Jahren allein, und das mache ihr nichts aus. Wenn sie jemals das Bedürfnis nach Gesellschaft habe, gehe sie in das Café um die Ecke. Dort lausche sie dem Altweibergetratsche an den Nebentischen, stürze ihren Cognac hinunter und mache sich eilig auf den Heimweg.
Nach der erneuten Aufforderung, mich in ihrer Bibliothek zu bedienen, verabschiedete sie sich, um ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit nachzugehen: Seniorenbetreuung. Sie besuchte alte Menschen, erledigte ihren Abwasch, nahm ihnen die Einkäufe ab; Menschen, die größtenteils ihre Kinder hätten sein können.
Unaufgefordert spülte ich das Geschirr und stürzte mich dann auf die Bücher. Bald stieß ich auf eine signierte Erstausgabe von "Ein Mensch". Im Einband stand geschrieben:

"Ungelebt

Ein Mensch, der noch nichts Böses ahnt,
hat immer nur gespart, geplant,
gestrebt im ständigen Vertrauen,
sich eine Zukunft aufzubauen,
blieb Kneipen und Bordellen fern
und wartete auf seinen Stern,
auf Aufstieg, Haus, auf Frau und Kinder
und auf ein Kraftfahrzeug nicht minder,
doch plötzlich kommt der Sensemann
und bietet seine Dienste an.

Der Mensch, der alles hat versäumt
und dessen Traum nun ausgeträumt,
erkennt: er hat noch nicht gelebt,
weshalb der Tod ihm widerstrebt.

In der stillen Hoffnung, dieses Büchlein möge Dir nicht allein zu besinnlicher Freude, sondern gleichfalls zur freudigen Besinnung gereichen, Dein ergebenster Freund

Eugen."

Ich schlug das Buch wieder zu und stellte es zurück, schloss mich in meinem Zimmer ein und weinte.

Am Abend hatte ich Gesellschaft aus einem halben Dutzend Novellen und Romanen. Professor Unrat hatte mich gefasst, Josef K suchte Unterschlupf, ich wurde von Mirko Czentovic geschlagen und von Irene Moll verführt, von Michael Finsbury auf den Arm genommen und von Werner Tötges interviewt.
Irgendwann hielt ich ihre Gegenwart nicht mehr aus; ich wollte allein sein, und so suchte ich mir eine Kneipe in der näheren Umgebung.
Nachdem ich eine Weile planlos umhergeirrt war, landete ich schließlich im "Altosten".
Während ich am Tresen an meinem Portwein nippte, verfolgte ich das Gespräch der Männer, die neben mir saßen. "Irgendwie ist es doch paradox", sagte einer von ihnen: "Seit das Ausland kleiner geworden ist, ist die Zahl der Faschisten größer geworden - von der ihrer Verbrechen ganz zu schweigen."
"Heute haben sie wieder eine Bezirksversammlung in ihrem 'Jugendzentrum’. Der Landesvorstand wird dem lokalen Abschaum ein paar neue Mordaufträge geben, und hinterher werden sie gemeinsam ihr 'Ein Schöpfer, eine Schöpfungskrone, ein Herr und eine Herrenrasse’ grölen." - "Wir dürfen das nicht langer dulden. Diese Brägenamputierten metzeln ihre Mitmenschen nieder, die Polizei sieht nicht hin - und wenn sie doch einmal einen Mörder schnappen, verknackt die Justiz ihn zu einer Jugendstrafe von bis zu zwei Jahren auf Bewährung; das gleiche Strafmaß erwartet jemanden für das Bekenntnis zur Internationale." - "Wir werden sie selbst bekämpfen müssen, und zwar mit ihren eigenen Waffen. Aus meiner Studentenzeit weiß ich ja noch, wie Mollis und Brandbomben gebastelt werden; am besten fahren wir gleich zu mir und fangen an, dann können wir noch heute Nacht beim Jugendzentrum vorbeifahren."
Der Vorschlag wurde begeistert aufgenommen, und der erste hob seinen Arm, um eine weitere Runde zu bestellen. Entsetzt blickte ich auf den Stummel, mit dem er die Bedienung herbeiwinkte. Dann betrachtete ich die anderen Männer, und erst jetzt bemerkte ich, dass sie keine Hände hatten.

Es war ein Tag wie jeder andere. Der Pöbel schrie faschistische Parolen, die Soldaten marschierten, der Mob verbrannte Flüchtlingswohnheime, der Bürger ging zur Arbeit.
Nachdem ich den Antrag auf Wohngeld abgegeben hatte, wurde ich durch die Innenstadt getrieben, und der Rest des Tages passierte mich in Form einer Zeitung und dreier Cappuccini.
Die Lage in Bimini, las ich, hatte sich zugespitzt. Tausende hatten vor dem Regierungsgebäude gegen den Diktator Cimaera demonstriert, Hunderte wurden von den Soldaten erschossen, Dutzende von Todesurteilen wurden im Schnellverfahren vollstreckt. Die Fronten im Krieg des Volkes gegen die Regierung verhärteten sich immer mehr; trotzdem hieß es, dass Touristen auf den Südseeinseln nach wie vor nichts zu befürchten hatten.
Außerdem erfuhr ich, dass der Kinderwürger wieder zugeschlagen hatte. Sein zweites Opfer sei gestern am See gefunden worden: ein achtjähriger Junge, der seit drei Tagen als vermisst galt, wurde vom Täter zunächst erwürgt, dann ausgezogen und schließlich ins Wasser geworfen.
Irgendwann schlossen die Geschäfte und auch mein Kaffeehaus, die Straßen wurden grau und stießen mich von einer Kreuzung zur anderen, während ich versuchte, durch den Nieselregen nach Hause zu schweben. Gerade glitt ich durch die Fußgängerzone, als sich vom schleierhaften Hintergrund eine Gestalt abhob, deren märchenhafte Schönheit sich nicht beschreiben lässt. Ihre schwarzen lockigen Haare waren die einer Göttin, ihr Körper war aus zartem Ebenholz, ihre Lippen bargen die Weisheit Salomos, und ihre großen schwarzen Augen hatten Bagdad zu Zeiten Harun Al Raschids gesehen - und doch begriffen sie das nicht, was in diesem Augenblick geschah. -
Die ganze Erhabenheit des Morgenlandes in Gestalt eines kleinen Kindes stand einer Horde von Unterprimaten gegenüber, die mit gezückten Messern auf das Mädchen zugingen.
"Na, mein Kind, wollen wir um diese Zeit nicht lieber nach Hause gehen - nach Dubai?"
"Oder lieber gleich zum Allmächtigen - früher oder später muss ihm doch jeder gegenüber treten."
Dann stach der erste zu. Die Passanten bemerkten, dass das Mädchen nicht zu ihren Landsleuten gehörte, und gingen weiter oder sahen interessiert zu.
Allein konnte ich ihr nicht helfen, und ich war allein. Ich musste versuchen, die Polizei zu verständigen, so schnell wie möglich. Ich duckte mich und grub. Meine Finger bluteten, die Zeit zerrann zwischen ihnen, und es dauerte Ewigkeiten, bis ich den Pflasterstein losreißen und in das nächste Schaufenster werfen konnte.
Als der Alarm losging, stachen die Helden noch einmal zu und verschwanden.
Ich nahm das bewusstlose Mädchen auf die Arme, sprang in ein Taxi und versuchte auf dem Weg ins Krankenhaus, ihre Wunden mit abgerissenen Streifen meines Oberhemds zu verbinden.
Zum Abschied küsste ich ihr die Hand und die Stirn, und meine Tränen fielen auf ihren sanften Mund. Wäre ich kein arthritischer Atheist, ich hätte Gott auf Knien gebeten, das Kind am Leben zu lassen.
"Retten Sie sie", sagte ich leise und blickte den Notarzt verzweifelt an. "Ich liebe dieses Kind über alles." - "Und wie heißt es?" - "Ich weiß es nicht."

Zu Hause angekommen richtete ich mir zunächst das Zimmer ein. Meine Zusammenstellung erstaunte die Wirtin nicht wenig: Stehlampe, Kommode und Wandvase aus den fünfziger Jahren, Kuscheltiere und skurrile Figuren gehörten ebenso dazu wie die Skulptur eines Sensemanns, ein Foto von Astrid Lindgren und einige Bilder, die Kinder für mich gemalt hatten. "Sie haben ja Ihren Überseekoffer noch gar nicht ausgepackt", bemerkte die neugierige Vermieterin beiläufig. "Was haben Sie da denn Schönes drin?"
"Das ist ein ganz besonderes Gepäckstück", erklärte ich ihr. "Es enthält den Sinn meines Lebens. Ich habe dies als ein Gegengeschenk aus der Spiegelgalaxie erhalten - es besteht also aus Antimaterie, und sobald ich den Koffer öffne, werden ich und der Sinn meines Lebens sich gegenseitig in Nichts auflösen."
Bald darauf zog sich die Wirtin zurück; falls ich Nägel oder Werkzeug brauchte, sagte sie, solle ich mich in der Abstellkammer gleich neben meinem Zimmer bedienen.
Der Raum war für eine Abstellkammer recht groß und aufwendig ausgestattet; er hatte einen Teppichboden, dessen eingedrückte Stellen darauf schließen ließen, dass hier vorher ein Zimmer eingerichtet war, desgleichen auch die hellen Flecken an der Wand, die offensichtlich von Bilderrahmen herrührten.
Ich nahm, was ich brauchte, schlug ein paar Nägel in die Wand und saugte Staub. Als ich die entliehenen Dinge zurückstellen wollte, befand sich ein Laufgitter in der Abstellkammer, in dem ein Kleinkind seinem Teddy nach den Armen und Beinen noch den Kopf abriss und mich dabei fröhlich anlachte. Ich stellte die Sachen an ihren Platz und schloss so schnell wie möglich die Tür hinter mir.

In dieser Nacht schlief ich fast gar nicht, und am Morgen konnte ich es kaum erwarten, zum Krankenhaus zu kommen.
Das Mädchen hing an tausend Tröpfen, ihre Schönheit und ihre Anmut waren dadurch jedoch nicht im Geringsten beeinträchtigt. Als sie mich erkannte, blitzten ihre Augen freudig auf. "Ich bin Mira", hauchte sie.
"Ich bin Frank", flüsterte ich betroffen und drückte ihr den selbst gepflückten Gänseblümchenstrauß in die Hand.
"Ich habe auch ein Geschenk für dich", sagte sie. "Es liegt unterm Bett."
Ich fand einen Karton, der eine große Flasche enthielt.
"Darin befindet sich der böse Geist einer der Söhne Sulamiths, der versucht hat, seine Mutter zu töten. Er wurde in die Flasche verbannt, die vom König Salomo eigenhändig versiegelt wurde. Sein Geist kann nur durch die Hand eines Gerechten erlöst werden, und diesem wird er einen Wunsch erfüllen, bevor er endlich Frieden bei seinen Vätern findet."
Einen Augenblick zweifelte ich daran, gerecht zu sein; wenn mich aber Mira für gerecht hielt, dann war ich es auch vor Allah und der Welt.
Zum Abschied hielt ich ihr kleines Händchen und küsste sie; wir wussten, dass wir uns nicht wiedersehen würden.

Es ist eine alte Weisheit, dass es den Täter immer wieder an den Ort des Verbrechenszurück zieht; mein Heimweg führte mich durch die Passage, in der ich am Vortag das Leben des Mädchens um sechsunddreißig Stunden verlängern konnte.
Ein Verkehrspolizist wurde von einer älteren Dame beim Notieren von Parksündern unterbrochen. Das Mütterchen gestikulierte heftig und zeigte schließlich auf mich, worauf der gute Mann auf mich zukam und ich ihn auf die Wache begleiten durfte. Mutwillige Sachbeschädigung wurde mir vorgeworfen, verbunden mit einem versuchten Einbruch.
"Nun, das ändert nichts an der Rechtslage", erläuterte man mir, nachdem ich meine Version der Geschichte erzählt hatte. "Aber Sie können ja mal den Geschäftsführer anrufen."
Man verband mich mit diesem, und nachdem ich mein Verschen ein zweites Mal aufgesagt hatte, zog er - nach einigem Überlegen - die Anzeige zurück; die Schadensersatzforderung bleibe aber in vollem Umfang bestehen.
Eine Haftpflichtversicherung wäre jetzt etwas Feines gewesen, aber ein Gelegenheitsarbeiter kann sich diesen Luxus nicht leisten. Da die (mehr oder weniger) seriösen Banken einem Arbeitslosen keinen Kredit bewilligten, blieben mir zwei Möglichkeiten: das Betteln oder ein Kredithai. Dummerweise entschloss ich mich aus falschem Stolz für die zweite.
Zwei Tage später nahm ich dann einen weiteren Kredit auf; die Rechnung des Krankenhauses für Notaufnahme und eineinhalbtägigen Aufenthalt (auf volle Tage aufgerundet) war angekommen.

In einem Café beschäftigte ich mich mit der Boulevardpresse. Cimaera kommt, hieß es da: Staatsbesuch des biminischen Staatsoberhaupts. Außerdem: Der Sozialstaat an der Belastungsgrenze, Endlich Ende des Flüchtlingsstroms? Wirtschaftsdepression unaufhaltsam, und: Diätenerhöhung um zwanzig Prozent. Ja, die Industriellen und die Abgeordneten konnten einem wirklich leid tun: mit Ausnahme der Arbeitskraft war alles teurer geworden.
"Verbrecher", dachte ich wohl etwas lauter als mir bewusst war, denn der mittelalterliche Snob am Nebentisch erinnerte mich: "Nun ja, wir leben halt in einer Demokratie." Abgesehen davon, dass ich keinen Zusammenhang zwischen der Schlagzeile und meiner Bemerkung herstellen konnte, ging ich mit seiner Aussage an sich nicht konform. Ich sah ihn an wie jemanden, der einen Witz zum sechshundertsechsundsechzigsten Mal wiederholt in der Hoffnung, endlich einen Lacher auf seiner Seite zu haben: "Wenn Demokratie für Sie bedeutet, alle vier Jahre ein Kreuz zu machen und dieses dann vier Jahre lang zu tragen, dann sind Sie ein sehr anspruchsloser Demokrat. Auf diese Anspruchslosigkeit ist das politische System gegründet."
Majestät waren indigniert und sprachen nicht mehr mit mir, und das war gut so. Ich legte die Rinnsteinpresse beiseite und vertiefte mich in einen Bimini-Artikel der alternativen Presse. Dort erfuhr ich, dass am Aufruhr insbesondere die Bimso-Arbeiter beteiligt waren. Der Bimso ist eine bambusartige Pflanze, deren Wurzel eine Flüssigkeit enthalt, die der Straffung der Haut dient und daher in vielen Kosmetika zu finden ist. Eine existenzsichernde Entlohnung der Arbeiter hätte zur Folge gehabt, dass der Preis für das Bimsoöl sich vervielfacht und der für Kosmetikartikel wenigstens verdoppelt hatte. Pharmaindustrie und Tussen in Amerika und Europa riefen die Regierungen der freien Welt daher zum raschen Handeln gegen die Revolutionäre auf. Der Diktator Cimaera, der von jeher durch die US-Regierung unterstützt wurde, erhielt Truppenverstärkung vom großen Bruder, und bald würde auch die UNO Blauhelme zum Schutz der Make-up-Preise nach Bimini entsenden.
Nun sollte Cimaera auch in unsere Hauptstadt kommen, um über eine Beteiligung unserer Wehrmacht und der NATO zu verhandeln; ein Staatsbesuch, den niemand auslassen sollte. Während mein Beschluss, in die Hauptstadt zu fahren, reifte, hatte ich ein Mädchen bemerkt, das sich am gegenüber liegenden Tisch niederließ. Zuerst sah ich zwei schmale Fesseln in schwarzen Pumps und zwei lange Beine in einer engen Jeans. Mein Blick schwebte hoher über einen runden Hintern, eine Wespentaille und einen schlanken Oberleib in einer weißen Bluse. Ein Busen war nur zu erkennen, wenn man genau hinsah, und ich sah genau hin: unter der Bluse verbargen sich zwei kirschgroße Brüste. Mein Blick schwebte höher und höher, und die Gestalt nahm kein Ende; den Kopf, den sie größer war als ich, trug sie erhaben auf einem Podest aus marmornem Schwanenhals, die lachenden braunen Augen blitzten mich an, ohne dass sich ihre vollen Lippen geöffnet hätten, sie warf die zierliche Nase in die Luft und die langen schwarzen Haare in den Nacken, und als sie ihren edlen Körper auf dem Stuhl platzierte, blinzelte sie mir zu.
Ich griff wieder zur Boulevardzeitung und biss die Zähne zusammen. Bisher hatte ich geglaubt, ein solches Mädchen könne nur meiner Fantasie entspringen.
Die "Flüchtlingsfrage", las ich, sollte nun mit Hilfe eines Vordrucks gelöst werden: jeder politisch Verfolgte hatte von nun an ein Formular vorzulegen, in dem ihm die Regierung seines Heimatlandes die politische Verfolgung bescheinigte.
Sie bekam den bestellten Wein, und ihre schlanke Hand griff nach dem Glas, ihre langen geschmeidigen Finger legten sich um den Stiel...
Ich blätterte weiter und beugte mich scheinbar interessiert über den Börsenteil.
Jetzt setzte sie das Glas an, öffnete die Lippen und gab die Sicht auf die weißen Zähne und die schmale rote Zunge frei...
Nein, nicht schon wieder. Keine Frau sollte mehr in mein Junggesellenleben einbrechen, auch nicht diese. Ich hatte kaum genügend Geld, mich selbst über Wasser zu halten, und konnte mir weiß Gott keine Frau leisten.
Die Beine, die Kirschen, die Augen - immer wieder musste ich zu ihr hinüber sehen, und immer wieder quittierte sie meinen Blick mit einem Lächeln, das...
Ich hatte keine Zeit für eine Freundin. Ich konnte, wenn es hoch kam, über ein Leben verfügen und war nicht bereit, dieses noch mit jemandem zu teilen.
Nun, wenn der Lemming nicht zum Meer kommt, kommt das Meer zum Lemming. Sie stolzierte auf meinen Tisch zu, setzte sich und warf einen Blick in die Zeitung.
"Du studierst den Aktienmarkt?"
"Nein, ich studiere Geschichte."
Sie hob anerkennend die Augenbrauen. "Welche Geschichte?" fragte sie neugierig.
"Die Geschichte vom bösen Wirt."
Die Antwort schien sie zu irritieren. "Davon habe ich noch nie gehört", erwiderte sie, und so erzählte ich sie: "Es war einmal, und es ist noch heute, ein Wirt, der ein gut gehendes Lokal besaß. Viele Menschen aus seinem Dorf kamen regelmäßig zu ihm, und sein Umsatz war entsprechend hoch.
Je mehr Geld er aber machte, desto raffgieriger wurde er. Er wusste, dass am Rand des Dorfes einige reiche Bürger wohnten, die nicht in sein Lokal gingen, sondern sich untereinander besuchten. Dies missfiel ihm, und so ernannte er sich eines Tages selbst zum Bürgermeister, beschaffte sich ein Gewehr und erließ ein Versammlungsverbot; von nun an war es allen untersagt, sich gegenseitig aufzusuchen, am Gartenzaun miteinander zu sprechen oder sich auf der Straße zu grüßen. Der einzige Ort, an dem man sich unterhalten durfte, war das Lokal, und wer dieses Gesetz zu übertreten wagte, wurde hingerichtet.
So fanden sich schließlich auch die Bürger im Wirtshaus zusammen, die bisher unter sich geblieben waren, und da sie weder Freunde noch Stammkunden des Besitzers waren, hatten sie ein Vielfaches der regulären Preise zu zahlen. Dies führte dazu, dass man den Verzehr in der Gaststätte auf ein Minimum beschränkte, was den Wirt aufs Neue gegen seine neuen Kunden aufbrachte. Immer häufiger kam es nun vor, dass er einen von ihnen vor oder gar in seinem Lokal niederschlug und ihm Geld, Brieftasche, Schmuck und hin und wieder auch ein Kleidungsstück entwendete.
Die nun schon nicht mehr so reichen Gäste gewöhnten sich bald daran, ihre materiellen Werte daheim zu lassen, und während sie sich im Lokal aufhielten, schickte der Wirt seine Frau und seine Kinder hinaus, um ihre Häuser auszurauben.
Die Gäste, die nach kurzer Zeit völlig verarmt waren, liefen bald nur noch in Lumpen umher. Sie waren völlig vereinsamt, da sie sich das Wirtshaus nicht mehr leisten konnten und natürlich auch keinen Kredit bekamen; mancher sprach nur deshalb mit seinem Nachbarn, um durch eine schnelle Erschießung dem qualvollen Hungertod zu entgehen.
Doch der Wirt, der ihnen alles genommen hatte, was sie besaßen, gab sich damit noch lange nicht zufrieden. Es ärgerte ihn, dass die einstmals zahlungskräftigsten Gäste kein Geld mehr in sein Lokal brachten, und so ging er an einem kalten Wintertag durch das Dorf und steckte die Häuser seiner abtrünnigen Kundschaft in Brand.
Am Abend standen sie alle vor seiner Tür und klopften, bis er sich recht ungehalten am Fenster zeigte.
'Herr Bürgermeister', flehten sie ihn an, 'wir haben nichts zu essen und zu trinken, wir frieren, und unsere Häuser sind abgebrannt. Habt Erbarmen mit uns und lasst uns in Eurem Lokal übernachten.'
'Dies ist ein Wirtshaus und kein Obdachlosenasyl', erhielten sie zur Antwort. 'Ich kann doch nicht jeden Dahergelaufenen bei mir einquartieren. Seht zu, dass ihr Geld verdient und auch ein Haus bauen könnt, aber lasst mich in Frieden.'
Als er dann sein Gewehr holte, flüchteten viele von ihnen in den Wald, wo Kälte, Hunger und Durst miteinander um den Sieg über das Leben wetteiferten. Wer aber schlau war, der ließ sich vor der Tür des Wirtes erschießen."
"Und wer ist dieser Wirt?" wollte sie wissen.
"Der Wirt heißt Europa."
Sie blickte unentschlossen auf ihre Handtasche, ihre Hände, die sie auf den Tisch gelegt hatte, auf ihr Glas und schließlich auf meine Hände.
"Eigentlich", sagte sie, "interessiere ich mich gar nicht für Politik."
"Das ist aber eine sehr ignorante Haltung", gab ich zu bedenken, "denn Politik bestimmt unser ganzes Dasein. Politik entscheidet darüber, um wie viel Uhr dieses Café schließen muss und ob du eine Wohnung bekommst. Politik entscheidet darüber, wie viel Geld du für deine Arbeit erhältst und wie viel davon du behalten darfst. Politik entscheidet darüber, mit welchem Prozentsatz du die Abgeordneten füttern musst und wie viel deiner Steuergelder für die Ausrottung der Kurden und Palästinenser verwendet werden.
Eigentlich", fuhr ich fort und griff zögernd nach meiner Kaffeetasse, "eigentlich interessiere ich mich auch nicht für Politik."
Sie schob ihre zarten Hände über die Tischfläche, etwa bis zur Mitte; es sah so aus, als sollte ich sie in die meinen legen. Ich verweigerte.
"Ich heiße Swantje", sagte sie.
"Ich heiße Fabian."
Sie lachte. "Klingt ein wenig altmodisch, finde ich."
"Es ist auch nur ein Nachname; aber ich finde, Jakob klingt noch viel altmodischer."
Sie führte mich in den Schlosspark. Als Republikaner hatte ich ihn bisher gemieden, auch wenn schon seit einigen Tagen kein Monarch mehr darin hauste. Das Publikum ist abschreckend genug: man bewundert die Bauwerke und Gartenanlagen und wünscht sich, man wäre in die gute alte Zeit hineingeboren worden, in der der selbsternannte Adel auf Kosten der Unterdrückten fremdes Land an sich riss, Paläste bauen ließ und in Kutschen umherstreunte. Niemand verschwendet auch nur einen Gedanken daran, dass man in der guten alten Zeit ebenso gut als Nichtadliger elendig hätte verrecken können.
Nun, inzwischen ist das Gefälle etwas kleiner geworden und die Zahl der Schmarotzer etwas größer, aber das System an sich ist geblieben. Das ist wohl auch die eigentliche Ursache meiner Scheu vor der Begegnung mit der Vergangenheit: die Begegnung mit der Gegenwart.
Aber an diesem Tag dachte ich weniger an Könige und Bauern oder an Präsidenten und Toilettenfrauen. Vielmehr dachte ich an das seltsame Bild, das eine Amazone mit einem Troll an der Hand abgeben musste.
Am Springbrunnen riss sie sich los und sprang mit einem Satz unter den Strahl. Im ersten Augenblick dachte ich in meiner Unbefangenheit, sie hätte gar nicht bemerkt, dass ihre winzigen Rosenknospen unter der dünnen Bluse sichtbar geworden waren. Sie hatte es sehr wohl bemerkt; sie genoss die gierigen Blicke der vielen Gaffer, und irgendwie genoss ich sie auch. Nachdem die Tore geschlossen wurden, folgte ich ihr am Ufer des Sees entlang bis zu der Stelle, an der ich einstmals den Elfen begegnet war. Wir setzten uns unter eine Eiche, sie legte verträumt den Kopf in meinen Schoß und blickte wie verzaubert in die ermattende Sonne, die ihre letzten Strahlen auf dem Wasser verteilte.
Von weither erklang ein leiser, feenhafter Gesang, der mich auf leichten Schwingen in eine andere Welt trug. Zunächst nahm ich an, die kleinen Elfen hätten sich meiner erinnert, doch nachdem ich vergebens nach ihnen Ausschau gehalten hatte, stellte ich fest, dass Swantjes Lippen sich bewegten.

Still, nur still, mein liebes Kind!
Schau hinauf zur Bergeshöh:
dort sagt Sol, der Gott der Sonne,
dieser kleinen Welt Adieu.

Still, nur still, mein liebes Kind!
Hör, wie es im Meere lacht:
dort sagt Neptun seinen Nixen
und den Menschen gute Nacht.

Still, nur still, mein liebes Kind!
Schau dem Spiel der Wolken zu:
unser Herrgott hinter ihnen
geht nun endlich auch zur Ruh.

Still, nur still, mein liebes Kind!
Hör, wie durch die Wälder zieht
Klang von Elfen: diese singen
ihrem Pan ein Wiegenlied.

Wie heut Abend, liebes Kind,
wird es allezeit geschehn,
und verlassen uns die Götter,
müssen wir zu Menschen gehn.

Mit den letzten Tönen hatte auch die Sonne den Horizont erreicht; der glühend rote Ball versank zwischen zwei jungen Birken, tauchte in die sich öffnenden Wellen ein und verschmolz für einen ewigen Moment zu einer selbst aufgebenden Einheit mit dem Wasser des Sees.
Ich genoss die Stille, ich genoss die Natur, ich genoss jeden Zentimeter ihres wunderbaren Körpers: den süßen Geschmack ihrer Küsse, den salzigen Geschmack ihrer Tränen, den bitteren Geschmack ihrer Erregung. Wie von einer ungekannten Kraft aufgesogen verschwand die Umwelt in meinem Innersten, und unsere Leiber waren das einzige, was in diesem Augenblick nicht aufhörte zu existieren.

Ich wachte allein in einem großen Wasserbett auf. Nach ein paar Minuten brachte ich es fertig, die Augen über einen längeren Zeitraum zu öffnen, mich langsam aufzurichten und den Zettel zu meinen Füßen zu lesen: "Ciao Elskhugi, am liebsten zum Frühstück, aber ich mochte Dich nicht wecken. Fühl Dich ganz wie zu Hause. Scopiamo stasera? Swantje."
Wie fühlt man sich zu Hause? Ich irrte ein wenig durch die geräumige Wohnung, an erotischen Fotos und katholischen Götzenbildern vorbei, und fand schließlich meinen Weg in die Küche.
Nach einem ausgiebigen Sektfrühstück beschloss ich, den Heimweg anzutreten.
Swantje wohnte etwas außerhalb, und ich war mir nicht sicher, ob ich sie wiedersehen wollte. Also hinterließ ich ebenfalls eine Nachricht: sie könne mich ab acht Uhr im Altosten finden.
Einerseits hatte ich eine wundervolle Nacht mit ihr verbracht, die so einzigartig war, dass sie nicht die einzige ihrer Art bleiben durfte. Andererseits konnte und wollte ich mich nicht an den Gedanken gewöhnen, mein ganzes Dasein an eine Frau zu verschwenden. Bis zum Abend hatte ich mich zu entscheiden.
Am Kiosk hingen die Zeitungen aus, und auf ihren Titelseiten prangte die Arbeitslosenstatistik des Vormonats. Immer wieder betrachtete ich die noch siebenstellige Zahl, insbesondere die letzte Ziffer: die 7. Gäbe es mich nicht, dachte ich, so würde dort eine 6 stehen. Aber es gab mich, und dort stand eine 7. Ich hatte etwas bewirkt, ich hatte die Titelseiten der gesamten Presse beeinflusst. Die Welt hatte mich zur Kenntnis genommen.

Frau Tischbein hatte an diesem Morgen unerwarteten Besuch bekommen: Silke, die Großenkelin ihrer verstorbenen Schwester, war aus der Nachbarstadt angereist.
"Sie ist die einzige, die sich noch an mich erinnert", sagte die Wirtin, "dabei habe ich das Mädchen seit zwölf Jahren nicht gesehen. Seit ihrer Einschulung, um genau zu sein. Aber setzen Sie sich doch zu uns."
Wir wurden durch die alten Fotoalben geführt, während Silke von ihrer Herfahrt berichtete. Vater und Mutter hatte sie vorgemacht, das Geld für die Zugfahrt zusammengespart zu haben - aber das war gelogen, und sie musste trampen. Ihre Eltern hätten die alte Dame selbst gern besucht, aber sie mussten ja arbeiten.
Das Familienalbum machte auf den ersten Blick einen etwas vernachlässigten Eindruck. Bei genauem Hinsehen konnte man feststellen, dass einige Fotos nachträglich kleiner geschnitten worden waren, andere waren ganz herausgetrennt, und hin und wieder war auch eine Bildunterschrift geschwärzt.
Mittags gab es Grünkohl mit Brägenwurst, das Leibgericht ihres seligen Gatten, und meine Wirtin tischte uns außerdem ihre Lieblingsgeschichte auf: wie sie als Kind in Berlin zur Schule ging und auf dem Heimweg mit ihrer Freundin regelmäßig Kirschen aus dem Garten von Wilhelm Busch stibitzte. Eines Tages stand der alte Dichter hinter ihnen, packte sie beim Fluchtversuch am Schlafittchen und brachte sie ins Haus, wo er ihnen zwei volle Körbe in die Hand drückte: "Dann spart ihr euch das mühsame Pflücken."
Ich wurde gebeten, das Album zurück in die Abstellkammer zu bringen. Auf dem Boden saß ein Kind, das sein Spielzeugauto in alle Einzelteile zerlegte. Als ich eintrat, sah es erschrocken auf und sagte: "Ich will nur sehen, wie es funktioniert, danach baue ich es wieder zusammen."
Als Silke sich verabschiedete, gab meine Wirtin ihr das Fahrgeld für den Zug und bat mich, sie zum Bahnhof zu bringen. Auf dem Weg fragte Silke mich, ob ich sie zur Landstraße begleiten würde; sie habe zwar nicht auf das Geld spekuliert, könne es aber für andere Dinge gut gebrauchen, und sie selbst habe vorm Trampen nicht so viel Angst wie Eltern oder Urgroßtanten. Wir kamen an der Redaktion des Lokalanzeigers vorbei, und irgendwie hoffte ich, dass Swantje, die Sekretärin des Chefredakteurs, gerade aus dem Fenster sehen und falsche Schlüsse ziehen möge. In diesem Fall hatte sich mein Problem von selbst gelöst. Silke erzählte mir, dass sie im kommenden Jahr in unsere Stadt ziehen würde, um hier zu studieren. Außerdem erwähnte sie, dass es ein "großes Geheimnis" um die alte Dame geben würde. Die Sache sei in der ganzen Familie tabu, und auch ihre Eltern hüllten sich in Schweigen.
Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete ich mich von dem Mädchen. Nach einigen Schritten blickte ich mich noch einmal nach ihr um; ich ahnte nicht, wie bald ich sie wieder sehen sollte.

Inzwischen war ich fest entschlossen, nicht in den Altosten zu gehen. Als ich um acht Uhr irgendwie doch da war, wartete Swantje bereits ungeduldig auf mich. Sie bereitete mich darauf vor, dass dies unser vorerst letzter Abend wäre; morgen müsse sie zu einem Lehrgang in die Hauptstadt fahren.
Auch ich wollte dorthin, um Cimaera zu empfangen - ich erwähnte es aber nicht, da ich keineswegs den Eindruck erwecken wollte, mich nicht von ihr trennen zu können.
Heute war Ruby Tuesday im Altosten: im hinteren Teil der Kneipe wurden Stühle und Tische an die Wand gestellt, da getanzt werden sollte. Gespielt wurden die Hits der Sechziger, und dementsprechendes Publikum war anwesend.
Ich liebe diese Musik, und es juckt mir in den Füßen, wenn ich sie höre. Aber leider kann ich nicht tanzen. Die meisten jungen Leute können nicht tanzen und tun es auch, aber ich komme mir dabei albern vor.
Lieber sehe ich den Mädchen dabei zu und beobachte, wie sie ihre blühendsten Körperteile im Rhythmus bewegen: die Hände, die Hälse, die Brüste, die Beine, die Becken und was sonst noch dazu gehört. Und immer wieder fiel mein Blick auf die eine, die die anderen in jeder Hinsicht überbieten konnte: die Längste, die Anmutigste, die Flachste, die Schönste. Gelegentlich versuchte sie, mich aufs Parkett zu winken, aber ich wollte nicht.
Bei Metal Guru hielt es mich dann doch nicht mehr. Von einem Augenblick auf den nächsten, als hätte ich mich auf die Tanzfläche gebeamt, hüpfte ich neben Swantje im Takt zu T. Rex. Es ist dies einer der Songs, die mir wie der Biss eines tollwütigen Hundes ins Blut gehen und mich jede Kontrolle verlieren lassen. Währenddessen saß ich am Tresen, nippte an meinem Wein und zog verächtlich den Mundwinkel in die Höhe, als ich den ausgeflippten Typ sah, der sich dort durch die gekonnte Demonstration seines Unvermögens lächerlich machte.
Ich wandte mich von der billigen Karikatur meiner selbst ab und meinem Nachbarn zu, der die Macht besaß, jeden beliebigen Menschen, ganz gleich wo sich dieser gerade befand, durch ein bestimmtes Wort zu töten, das nur er kannte.
"Haben Sie es schon einmal ausgesprochen?"
Der Mann hatte nicht bemerkt, dass ich mit ihm redete, und so stieß ich ihn an und wiederholte die Frage.
Offensichtlich etwas verdutzt, von einem Fremden darauf angesprochen zu werden, erwiderte er: "Nein, noch nie."
"Warum nicht?" wollte ich wissen. "Liegt es doch in Ihrer Macht, die Welt von allem Bösen zu befreien: von den Unterdrückern, den Kriegstreibern, den Ausbeutern, den Mördern..."
"Ich kann nicht töten", sagte er verlegen, und er fügte zögernd hinzu: "Ich bin Pazifist."
Ich verstand, und ich blickte beschämt zu Boden. Es war ein unangenehmes Gefühl, so als ob der andere eine schwere Behinderung eingestanden hätte, von der man selbst betroffen ist, und man sich unschlüssig ist, ob man ihn nun in die eigene Behinderung einweihen soll oder nicht.
"Ich auch."
Er antwortete nicht.
"Aber ich weiß nicht, ob ich noch Pazifist wäre, wenn ich Ihre Macht hatte."
Er sah mich mitleidig an. "Pazifismus ist nicht durch Worte heilbar."
Inzwischen war ich mit Swantje an den Tresen zurückgekehrt. Wir setzten uns dazu, und sie wechselte unser Thema. Ich glaube, das war allen recht so.

Am nächsten Morgen fand ich mich wieder allein im Wasserbett. Swantje war schon früh in die Hauptstadt gefahren, um an ihrem Lehrgang teilzunehmen.
Nach dem Frühstück trottete ich gemächlich zur Landstraße hin. Wie gern wäre ich mit dem Zug gefahren, in dem man sich das Fenster und - wenn sie denn gar nicht zu vermeiden waren - die Nachbarn aussuchen konnte und nicht mit ihnen reden musste. Aber die dritte Klasse gab es schon lange nicht mehr, die zweite konnte ich mir nicht leisten, und so musste ich wohl oder übel per Anhalter fahren.
Ich hatte Unglück im Glück und wurde schon bald von einem dicken, verpickeltem und geschwätzigem Etwas mitgenommen, einer Militanze, wie sie im Buche steht. Nach ihrer letzten Abtreibung hatte der Arzt ihr dringende Bettruhe verordnet, aber wo es darum ginge, sich für die grundlegenden Menschenrechte einzusetzen, da dürfe sie nicht fehlen.
Sie bemühte sich, mich die natürliche Überlegenheit ihres Geschlechtes nur in dem Maße spüren zu lassen, das unbedingt notwendig war, um mich - den Mann, der ja nichts dafür konnte - auf respektvoller Distanz zu halten.
Das Mädchen verfügte über einen höchst unbesetzten Geist: sie, die mir immer wieder versicherte, ich als Manngeborener könne die Zusammenhänge gar nicht erfassen, hatte nicht das geringste Interesse für die Vorgänge in Bimini. Sie wusste nur, dass der Diktator ein Mann war und dass sich Frauen am Aufstand beteiligten, also war sie für die Revolution.
Bald schon, so versicherte sie mir, würde die Auflehnung der biminischen Frauen die weltweite Revolution der Frauen und den Umsturz der Männergesellschaft herbeigeführt haben, und damit wäre die Erde im allerletzten Augenblick gerettet.
Um nicht in ihrer Begleitung auf der Demo erscheinen zu müssen, gab ich bei unserer Ankunft in der Hauptstadt vor, hungrig zu sein, verschmähte ihre vegetarischen Brennnesselburger und ließ mich vor dem Mövenpick absetzen.

Es waren zehntausende, die Cimaera empfangen wollten, und man konnte sie in vier große Gruppen einteilen. Zum einen handelte es sich um die Sympathisanten der Revolution, die den Diktator mit Spruchbändern zum Rücktritt veranlassen wollten, dann gab es die Exil-Biminer, die in Bimini größtenteils in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden waren, in unserem Land Asyl beantragt hatten und auf ihre Abschiebung warteten, drittens die Anhänger Cimaeras, die teilweise mit Sondermaschinen aus Bimini eingeflogen worden waren und allgemein als Jubel-Biminer bezeichnet wurden, und schließlich die Polizei, die durch die hellere Hautfarbe gut von der dritten Gruppe unterschieden werden konnte.
Bewaffnet durften nur die beiden letztgenannten an der Demonstration teilnehmen, und wer sich keine Schusswaffe besorgen konnte, reiste mit Zaunlatten, Steinschleudern oder Brecheisen an. Irgendwie vermisste ich die Faschisten, die doch sonst überall mitmischten, wo es Blut zu sehen gab. Viel Zeit zum Wundern blieb mir aber nicht, denn die Polizisten bildeten eine Kette, die die cimaerafeindlichen Demonstranten gegen die zwei Meter hohe Absperrung drückte. Die vordersten bekamen keine Luft mehr, einige bluteten, fünf oder sechs kletterten, einem ordnungswidrigen Überlebenstrieb folgend, die Maschen empor, um sich nach den Warnschüssen der Grünen auf die Nachgedrückten fallen zu lassen.
Nach und nach beruhigte sich die Lage soweit, dass das Schieben und Drücken die Überlebenschancen zumindest nicht mehr beeinträchtigte, als dies bei einem größeren Rockkonzert der Fall gewesen wäre.
Dann kam die Staatskarosse in Sichtweite, und der Polizeichef rief: "Auf geht's!"
Damit begann die Aktion Freie Fahrt: auf dieses Kommando hin überfielen Jubel-Biminer und Polizei die übrigen Demonstranten und schlugen mit allen greifbaren Gegenständen auf sie ein. Einige der wehrlosen Angegriffenen rissen Pflastersteine aus dem Bürgersteig und wurden später zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Wahrend die Knüppel der Ordnungshüter und die Latten der Biminer auf uns niedergingen, winkten uns Cimaera und unser eigener Präsident freundlich zu. Das Blut sammelte sich im Rinnstein und floss in einem zähen Strom an uns vorbei. Cimaera und sein Komplize waren inzwischen im Opernhaus verschwunden und sahen sich Die Zauberflöte an, die Oper eines Autors, der Schwierigkeiten hatte, Gut und Böse auseinander zu halten. Seine Zuschauer konnten es, und sie hatten sich entschieden.
Unter einigen Polizisten begann eine Diskussion darum, dass der Chef das Signal erst geben sollte, sobald die Staatskarosse außer Sichtweite sei; tatsächlich musste er wegen dieses Vorfalls später seinen Hut nehmen. (Es versteht sich von selbst, dass die Beamten während des Gesprächs ihre Arbeit nicht unterbrachen.)
Neben mir fielen Schüsse. Es waren nicht die ersten, und es sollten nicht die letzten sein. Eine junge Frau war von einem Polizisten mit einem Rücken- und einem Genickschuss niedergestreckt worden. Als er sah, dass sie schwanger war, jagte er ihr sicherheitshalber noch eine Kugel in den Bauch. Später wurde er vor Gericht gestellt und freigesprochen, da er in Notwehr gehandelt habe. Außerdem ist er für eine Tapferkeitsmedaille im Gespräch.
Die Jubel-Biminer vermieden alles, was über Mord und Totschlag hinausging; sie gaben sich mit körperlicher Gewalt zufrieden. Die Grünen rissen uns, als ihre Kräfte langsam nachließen, die Hosen so vom Leib, dass der Reißverschluss kaputtging: wir sollten auf dem Heimweg noch mal Probleme wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses bekommen.
Mit ein paar Tränengasbomben verabschiedete man sich von denen, die man aus Platzgründen nicht verhaften konnte. Ich war ein Glückspilz: bis auf eine Prellung an der Stirn, ein abgerissenes Ohrläppchen, ein gebrochenes Nasenbein, einen Streifschuss an der Hüfte und ein paar Dutzend blauer Flecken war mir rein gar nichts passiert.
Wie ein Letzter schlafwandelte ich über das Gelände des Massakers, zwischen Blutlachen, ausgedienten Brechstangen und unbehandelten Schwerverletzten, so wie der letzte Überlebende in einem billigen Western oder der letzte Dinosaurier, der weiß, dass nach ihm nichts mehr kommen kann. Oder, denke ich, wie der letzte Amerikaner...
Sieben Tote, erfuhr ich später. Fünf davon Biminer. Exil-Biminer: das Todesurteil bereits gesprochen, der Asylantrag bereits abgelehnt. Sie hatten sich vor der Tür des Wirts erschießen lassen.
Und doch gab es noch etwas, das diese traurige Demonstration aus den Schlagzeilen drängte. Die Faschisten hatten nicht geschlafen, und während alle verfügbaren Polizeibeamten den Staatsgast vor Buhrufen schützten, brannten sämtliche Flüchtlingsunterkünfte der Hauptstadt. Hier gab es 216 Tote. "Das ist nicht der richtige Weg", war wieder einmal die Botschaft des Präsidenten an die Massenmörder. Er appellierte in blumenreichen Formulierungen an die Faschisten, die Ausweisung der Asylsuchenden abzuwarten, damit sie in ihrer Heimat umgebracht werden konnten. "Alles andere kann dem Ansehen dieses unseres Landes nur Schaden zufügen."
Böse Worte folgten dann gegen die Schuldigen: die Flüchtlinge, die ihre Heimat verlassen, um unseren Sozialstaat zu plündern, ihre Komplizen, die Internationalisten, die dem Kommunismus noch immer nicht abgesagt hatten, und natürlich die Demonstranten, die an diesem Tag alle Ordnungskräfte gebunden hatten, da Cimaera sonst nicht in die Oper hätte gehen können.
Die Menschen saßen in ihren Wohnzimmern. Hinter den Gardinen sah ich ihre Silhouetten inmitten des blauen Lichts. Nur der Fernseher trennte sie noch von der Wirklichkeit.
"Euretwegen reißen wir uns die Ärsche auf!" schrie mir ein Polizist hinterher. "Ich brauche keine reißenden Ärsche", entgegnete ich. Als ich den Ernst der Lage begriff, stellte ich mich betrunken und wurde nach einer teuren Nacht in der Ausnüchterungszelle wieder frei gelassen.
Es war bitterkalt und so früh am Morgen, dass es eigentlich noch Nacht war. Trampen konnte man um diese Uhrzeit noch nicht, und so ging ich zum Bahnhof und studierte einmal mehr die Presse. "Sieg der Anarchisten", hieß die Schlagzeile diesmal: "223 Tote!" 216 Flüchtlinge, so stand dort, mussten sterben, weil sämtliche Polizeikräfte damit beschäftigt waren, einen Regierungssturz zu verhindern. Bei den Krawallen an der Oper wurden sieben Menschen getötet, darunter fünf Biminer, die die beschwerliche Reise in unser Land gemacht haben, um ihrem gütigen Landesvater zuzujubeln. Welch ein Armutszeugnis für die geistige Kultur dieser Untermenschen, die sich noch immer nicht mit der Niederlage des Stalinismus abfinden wollen!
Auch habe es zahlreiche Verletzte gegeben, und Polizei sowie cimaeratreue Biminer hatten unter Einsatz ihres eigenen Lebens das vieler anderer retten können, die Opfer einer gewalttätigen Horde entmenschter Demonstranten geworden seien.
Mitgenommen wurde ich von einem uniformierten Geschäftsmann, nachdem ich einige Stunden am Straßenrand verbracht hatte. Mein Zustand gab ausreichenden Aufschluss über meine Erlebnisse vom Vortag und lieferte damit das Gesprächsthema.
Im Grunde sympathisiere er mit uns und den aufständischen Biminern, aber als Manager eines Pharmaziekonzerns könne er sich wohl kaum auf einer Demonstration blicken lassen, und schon gar nicht auf dieser.
Obwohl sein Weg an unserer Stadt vorbeiführte, bestand er darauf, mich vor der Haustür abzusetzen. Meine Wirtin, die sich bereits Sorgen gemacht hatte, sah mich fassungslos an und ließ sich haarklein von den Ursachen meiner Verletzungen berichten. Dann hob sie den Rock an, so dass man die Waden sehen konnte, und zeigte auf die Narbe einer Schusswunde. "Ich habe noch eine am Bauch, aber die werden Sie wohl nicht unbedingt sehen müssen."
"Und wie sind Sie dazu gekommen?"
"Als junge Frau habe ich es gewagt, an einer Demonstration gegen Friedrich Ebert teilzunehmen, den alten Friedrich Ebert. Es hat sich nichts geändert", seufzte sie, "gar nichts."

Nachdem ich geschlafen und gelesen hatte, ging ich wieder in den Altosten. Ich musste feststellen, dass ich mich mit dem Gedanken, mit einer Frau zu leben, vertraut gemacht hatte und fühlte mich einsam ohne Swantje. Drei Tage noch, sagte ich mir, dann ist sie wieder da. Drei lange Tage.
Ich habe mich selten betrunken, und noch seltener vorsätzlich. Eine solche Gelegenheit war dieser Abend; wie ein Kinofilm liefen die Gesichter der anderen an meinen Augen und ihre Gespräche an meinen Ohren vorüber, und das einzig reelle war das volle Glas, das vor mir stand.
Mein Tresennachbar trank zwar nicht weniger als ich, aber er vertrug weniger. Nun gibt es Menschen, denen der Alkohol die Lippen schließt, wie beispielsweise mich. Und es gibt Menschen, denen er sie öffnet, wie beispielsweise diesen Mann. Zu allem Überfluss wurde er auch noch politisch und fragte mich nach meiner Meinung über die Kapitulation des Ostblocks.
"Schwer zu sagen", meinte ich wahrheitsgetreu, da die Beweglichkeit meiner Zunge schon stark eingeschränkt war, "ich sehe den Zusammenbruch des Stalinismus mit einem lachenden und zwei weinenden Augen. Zum einen dürfen die Menschen jetzt sagen, was sie wollen, wenn ihnen jemand zuhört, sie dürfen kaufen, was sie wollen, wenn sie das Geld haben, und sie dürfen reisen, wohin sie wollen, wenn sie ein Ziel haben. Zum anderen werden sie jetzt mit Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Klassengesellschaft und Nationalkonflikten konfrontiert, und sie werden lange brauchen, um sich an die Segnungen des Mittelalters zu gewöhnen. Und zum dritten ist mit der UdSSR die ausgleichende Kraft verschwunden, die den Amerikanern die Hände gebunden hat. Jetzt wird die ganze Welt veramerikanischt, und niemand tut etwas dagegen."
"Aber stört Sie denn gar nicht der Rückgang des Lebensstandards, den das Ganze für die westliche Welt mit sich gebracht hat?"
"Ich bin Internationalist, und solange ich mir Brot, Wasser und ein Zimmer leisten kann, nehme ich dankbar und schlechten Gewissens zur Kenntnis, zum privilegierten Teil der Menschheit zu zählen."
Selbst im nüchternen Zustand hätte ich nicht besser formulieren können, und selbst im nüchternen Zustand hätte mein Gegenüber mich nicht verstanden.
Um vier Whisky nach eins schob er mir eine Visitenkarte (Dr phil Sowieso) zu und bat mich, ihn nach Hause zu bringen, falls mir die Straße bekannt wäre. Nachdem ich seine Einladung zu einem kurzen Drink höflich ausgeschlagen hatte, machte ich mich auf den eigenen Heimweg und kam an einer Baustelle vorbei.
Noch niemals ist mir die Schönheit einer Baustelle so schmerzhaft bewusst geworden. Ich fragte mich, ob Schönheit immer etwas Schmerzhaftes sein musste, und antwortete mit Ja.
Da waren die vielen alten Steine, aus einer überlegten Architektur der Vergangenheit herausgerissen und achtlos aufeinander geschüttet, die neuen Steine, die bereits verplant waren, aber noch auf ihren Einsatz warten mussten, da war das leuchtende saubere Schild, das in Rot und Weiß auf die Straße glänzte und anzeigte, dass sich hier etwas veränderte. Aber es veränderte sich gar nichts, weil die Baustelle leer war. Die alten Steine, die neuen Steine, das rotweiße Schild verharrten reglos auf ihrem Platz, und dort würden sie die ganze Nacht über bleiben.

Lassen Sie den Regen langsam ausklingen, der seit Mittag auf das Städtchen niedergeprasselt ist, pusten Sie ein wenig über den See, so dass die Herbstblätter von den Ästen und von den Straßen aus ihrer Teilnahmslosigkeit gerissen und fröhlich durcheinandergewirbelt werden, setzen Sie die goldene Jahreszeitenbrille auf und lassen Sie zwischen den grauen Wolken freundlich aber dezent die Sonne hervorblinzeln.
Jetzt die Sonne etwas zurücknehmen, vielleicht sollten Sie schon für ein wenig Abendrot sorgen, der Wind noch etwas frischer - genau so, das ist eine wunderbare Kulisse für meine melancholische Stimmung am letzten Nachmittag vor Swantjes Rückkehr. Dann sehe ich den Rauch. Unten am See ist ein Lagerfeuer, und davor sitzen junge Leute. Vielleicht lassen sie mich auch dorthin; ich will ja nicht aufdringlich sein oder unterhalten werden, nur ein wenig an den Flammen sitzen, vorne die Hitze und hinten die Kalte spüren und das Wasser betrachten, einfach so. Lasst mich hier sein, werde ich sagen, und tut so, als ob ich gar nicht da sei.
Der Rauch blies mir ins Gesicht, und es war ein beißender Geruch. So, dachte ich bei mir, muss es riechen, wenn Menschen verbrannt werden, so müssen die Scheiterhaufen der gegenwärtigen Jahrhunderte gerochen haben.
Als ich nah genug herangekommen war, erkannte ich den Schatten eines Mädchens, das sich über das Feuer beugte, wahrend die anderen feierlich zusahen. Es handelte sich um eine satanische Zeremonie, einen Teufelskult, und ich hörte die Stimme des Mädchens: "Ich übergebe den Flammen die Schriften von Heinrich Böll, Max Frisch und Anne Frank!"
Ich entfernte mich vom Schauplatz, ohne bemerkt worden zu sein. Der tosende Beifall klang in meinen Ohren nach wie ein tausendfaches Stampfen von Pferdefüßen, und das Jubelgeschrei konnte nur aus der Unterwelt kommen.

Sonnenstrahlen tanzen lustig
durch die Halme, durch die Blüten,
sie erfreuen Wurm und Biene
und den Schläfer auf der Wiese.
Träge in die Sonne blinzelnd
singe ich für meine Elfe,
ohne dabei nachzusehen,
ob sie nicht schon von mir ging.
Altes traurigschönes Lied
von der Liebe zweier Wesen,
die sich nicht begegnen konnten,
weil sie zu verschieden waren.
Er war Mensch und sie war Nixe,
und sie liebten sich so sehr;
er kann nicht im Wasser leben
und sie kann’s nicht auf dem Lande.
Sie erzählte immer wieder
von der Wunderwelt des Meeres,
von den Fischen, die ihr dienten,
und von ihrem Märchenschloss -
doch es wollt ihr nicht gelingen,
den Geliebten in die Wellen
und an ihre Brust zu ziehn.
Er hingegen suchte stets,
sie aufs feste Land zu locken,
wo der Liebe Rosen blühen
und der Menschen Heimat ist.
Lange ging das Liebeswerben
hin und her und her und hin,
bis sie einzusehn begannen,
dass sie weder unter Wasser
noch zu Lande glücklich würden.
Und so nahmen sie den dritten
Weg, der ihnen noch verblieb:
sie erhoben eng umschlungen
sich gemeinsam in die Lüfte,
zwischen Wind und Wolken lebend,
wo sie heut noch glücklich sind.

Die ganze Nacht spazierte ich gedankenverloren durch den Wald und fand mich beim ersten Morgenrot im Städtchen wieder. Der Himmel, der sich eben noch anschickte, den düsteren Schleier der Nacht aufzuziehen, verdunkelte sich plötzlich wieder. Eine gigantische Hand schwebte über der Stadt, von deren Fingern sich lange Fäden auf die Erde hinab senkten, die die ersten Menschen mit ihren Aktentaschen und Brotbeuteln von ihren Häusern zu ihren Büros und Betrieben geleiteten.
Wehmütig dachte ich zurück an die Zeit vor meiner Krankheit, als ich noch jede Nacht in einem anderen Bett schlief und jeden Morgen in einer anderen Welt erwachte. Niemals wusste ich, wohin meine nächste Bewegung mich führen würde und welch ein Erlebnis mir als nächstes bevorstand: der Kampf mit einem Drachen, die Rettung der Kachina, der Tanz mit den Wurzelzwergen, die Odyssee durch Perelin oder vielleicht die Nacht mit einer Göttin.
Und dann hatte ich diese seltsamen Träume: jeden Morgen in derselben Wohnung aufzuwachen, dieselbe Familie um mich zu haben und in dieselbe Schule oder Fabrik zu gehen, jeden Tag dieselbe Arbeit zu verrichten, dieselbe Frau zu lieben und auf denselben Hinterhof hinauszusehen.
Ich wusste, wie es um mich stand. Viele hatten ähnliche Träume gehabt, und die wenigsten von ihnen konnten geheilt werden. Die meisten gingen daran zugrunde: sie begannen, Leben und Traum zu verwechseln, und nach ein paar Jahren starben sie und lebten nur noch im Traum. Auch mir ging es so, aber noch im Sterben war ich von dem eisernen Willen erfüllt, die Erinnerung an das Leben hinüberzuretten.
Nun wünsche ich, ich hätte es nicht getan, denn die Erinnerung ist deprimierend. So wie ein Sklave die Freiheit, ein Palästinenser die Heimat und ein Zirkuslöwe die Jagd, so hätte ich besser daran getan, das Leben zu vergessen.
Inzwischen war ich bei Swantjes Wohnung angekommen und legte mich schlafen, um mich bei ihrer Rückkehr wecken zu lassen.

"Elskhugi", flüsterte sie und küsste meine Nasenspitze. "Elskhugi, ich bin wieder da!"
Wie zwei ausgehungerte Raubtiere fielen wir übereinander her. Wir fanden nicht einmal die Zeit, uns auszuziehen, und begnügten uns damit, die Hose des anderen bis zu den Knien herunterzuzerren.
Als wir am frühen Abend erschöpft voneinander abließen, war mein Bedürfnis nach gesellschaftlichen Aktivitäten nicht mehr sonderlich ausgeprägt, aber Swantje überredete mich doch zum Besuch eines kirchlichen Vortrags.
"Neue Erkenntnisse der Theologie", hieß es auf dem Flugblatt: "Der wissenschaftliche Fortschritt macht keinen Bogen um die christliche Lehre."
Die Veranstaltung war mäßig besucht, der größte Teil der Zuhörer bestand aus Geistlichen, daneben waren auch einige ältere Herrschaften anwesend.
"Das eigentliche Problem", flüsterte ein Pfaffe hinter uns seinem Nachbarn zu, "besteht darin, dass wir für diese Passionsspiele keinen Christus finden können. Ich habe schon in den Nachbargemeinden nachgefragt, aber es ist nichts zu machen."
"Und wie steht es mit dem Grünwald Beppo? Der geht doch sogar in die Schauspielschule."
"Na, erlauben Sie mal. Sein Großvater war Jude. Ich bin weiß Gott kein Antisemit, aber ein Jude als Jesus, das ist eine Beleidigung für die Gläubigen, das ist Blasphemie!"
"Du glaubst doch an Gott?!" fragte Swantje mich etwas unsicher. "Ich bin Atheist", erwiderte ich. "Ich glaube nur das, was ich sehe."
"Nein, ganz im Gegenteil: du siehst nur das, was du glaubst."
Während ich ihre denkwürdige Antwort genussvoll in mein geistiges Poesiealbum einschrieb, verstummten die übrigen Stimmen im Saal. Dr theol U Wegener war hinter das Rednerpult getreten. "Liebe Brüder und Schwestern im Herrn, liebe Freunde der Wissenschaft und der Kirche. Heute Abend spreche ich über die Theologie, die als Wissenschaft oft recht stiefmütterlich behandelt wird und von Forschern anderer Bereiche gerne als Glaubenschaft abgetan wird, da sie angeblich nicht auf greifbaren Tatsachen beruhe. An dieser Stelle sei nur erwähnt, dass auch die viel zitierte Relativitätstheorie sich auf keinerlei bewiesene physische Gegebenheiten berufen konnte und ihre Richtigkeit sich erst aus den Konsequenzen ergab, die man aus der Theorie selbst zog. Die meisten von uns haben ihren Glauben bereits erlebt: in Gebetserhörungen, Stigmen und so weiter, und so ist unser Glaube zum Wissen geworden. Wir wissen, was wir glauben, und unsere Glaubenschaft ist eine Wissenschaft, die sich von anderen lediglich durch ihre ewige Gültigkeit unterscheidet.
Was jedoch die Forschung und die Weiterentwicklung angeht, so liegt die Theologie leider sehr im Hintertreffen. Es braucht nur darauf hingewiesen zu werden, wie schwer es der Kirche fällt, sich von irrigen Dogmen wie z. B. der Scheibenform der Erde zu trennen. Wir müssen lernen, offener mit neuen Ideen und Denkansätzen umzugehen, und den Anfang will ich heute machen mit einer Theorie, die ein junger Kollege mir vor wenigen Wochen unterbreitet hat. Er hat seinen Text Essay zur Existenz eines Über-Gottes genannt, und ich bitte Sie, den etwas provokativen Ton der Schrift seiner Jugend zugute zu halten.
Eingeleitet hat er sie mit den Worten, die Heinrich Heine dem ersten Menschen in den Mund gelegt hat: 'Das war kein wahres Paradies - es gab dort verbotene Bäume.'
Gott versucht, so schreibt der junge Kollege, uns die Menschheit als seine ureigenste Kreation zu verkaufen, die er vollkommen nach seinem Bild erschaffen hat und deshalb, trotz all ihrer großen Unvollkommenheiten, abgöttisch liebt. Allerdings hat er sie nicht so sehr geliebt, dass er seinen Ebenbildern freie Hand gelassen hatte, sondern er hat eine Regel aufgestellt: von diesem Baum dürft ihr nicht essen!
Nun gab es sicher Tausende von Bäumen im Garten Eden, und hätten Adam und Eva nicht um die Besonderheit dieses einen Baumes gewusst, sie wären wohl kaum in Versuchung gekommen, ausgerechnet von diesem zu essen.
Gott nannte ihnen auch keinen plausiblen Grund, weshalb die Früchte unangetastet bleiben sollten. Hätte er gesagt 'Erkenntnis ist krebserregend' Oder 'Erkenntnis ist Götterspeise', die ersten Menschen hätten wohl eher Verständnis für das Verbot gehabt.
Schon nach einem Bisschen Erkenntnis bemerkten sie, dass sie nackt waren, und bei dieser Gelegenheit wohl auch den Unterschied der Geschlechter. Vielleicht erkannten sie sogar, was man mit diesen Geschlechtern anfangen konnte, und es war ihnen peinlich. Hätten sie nicht gegessen, wäre es ihnen nicht aufgefallen, und so wäre das Paradies in jedem Fall kinderlos geblieben.
Nun wurden sie hinausgeworfen. Gott liebte sie zwar noch immer, aber er konnte sie nicht bei sich lassen; entweder wurde er daran durch höhere Gewalt gehindert, oder er konnte die Anwesenheit denkender Menschen im Paradies auf keinen Fall dulden. Im weiteren Verlauf der Menschheit wurden immer wieder die inzwischen zu einem unübersichtlichen Chaos angewachsenen Regeln durch die Menschen verletzt, und aus irgendeinem Grund war es dem Allmächtigen nicht möglich, die Sache ins Reine zu bringen, seine Menschlein in den Arm zu nehmen und zu sagen: 'Aber tut das nicht noch mal.'
Er war im Gegenteil dazu gezwungen, die Menschen gegen seinen Willen reihenweise durch Kriege, Hungersnöte und Epidemien umzulegen.
Schließlich setzte er dem Ganzen die Krone auf, indem er sich selbst in einen Menschen verwandelte, auf die Erde herunterkam, den Sozialismus predigte und sich dafür foltern und hinrichten ließ. Die Begründung scheint einleuchtend: er musste leiden und sterben, damit er den Menschen endlich ihre Regelverstöße verzeihen kann. Logisch.
Aber damit ist die Sache noch nicht gegessen. Entgegen der Verheißung, dass mit dem Messias auch Friedensreich und ewiges Leben kommen würden, ist er noch mal allein nach oben gegangen, um ein paar Vorbereitungen zu treffen, die ihn mittlerweile seit 2000 Jahren beanspruchen. Die Menschen leiden und sterben inzwischen weiter, aber wenn sie sich die Knie ein bisschen aufscheuern, bekommen sie im Himmel irgendwann eine Wiedergutmachung.
Und falls dieses Friedensreich jemals fertig werden und eines Tages von Menschenhand betreten werden sollte, ich schwöre euch einen Eid auf alles, was mir heilig ist: es wird dort wieder einen verbotenen Baum geben.
- Nun bleibt die Frage: weshalb kann Gott es sich nicht verkneifen, den Menschen Regeln aufs Auge zu drücken, die zum großen Teil überhaupt keinen Sinn zu haben scheinen?
Regelmäßig kommt hier der Hinweis auf Luzifer, den Lichtengel, den Satan, die Schlange, den Teufel, den Verführer von Anfang an und wie der Knabe sonst noch genannt wird. Gott behauptet zwar, stärker als dieser zu sein, mit seinem Endsieg vertröstet er uns aber immer wieder auf die kommenden Jahrtausende.
Warum aber hat er sich in diesem Krieg selbst an Regeln zu halten?
Natürlich, auch für Kriege gibt es gewisse Regeln, aber wer hält sie schon ein?
Wenn die Serben auf Rotkreuzfahrzeuge schießen und die Amerikaner ihre Kriege fast ausschließlich gegen die Zivilbevölkerung führen, wird dies stets damit begründet, dass es der "gerechten Sache" diene. Wenn Gott nun eine gerechte Sache verfolgt, weshalb hält er sich dann an Regeln, die seiner eigenen Sache schaden, statt dem Bösen endlich mit allen gegebenen Mitteln den Garaus zu machen?
Respekt vor dem Feind ist keine ausreichende Erklärung; die Erlösung der Menschheit ist schließlich kein Kinderspiel.
Oder doch?
- Nehmen wir an, dass ein paar Götterkinder über freiem Himmel Schöpfer gespielt haben, und der kleine Jehova sagte zum kleinen Luzifer: 'Wetten, dass ich ein absolut folgsames Wesen schaffen kann, das die unsinnigsten Befehle widerstandslos ausführt?'
Nehmen wir weiter an, dass Luzifer die Wette angenommen hat und dass die beiden ihren Vater oder ein sonstiges übergeordnetes Wesen als Schiedsrichter eingespannt haben. Ein solcher Über-Gott würde erklären, warum Gott sich selbst an Regeln zu halten hat, seinen Menschen Regeln verordnen muss und nicht ohne Weiteres ein Auge zudrücken kann. Wie aber sollen wir uns diesem Über-Gott gegenüber verhalten? Würden wir ihn anbeten, so könnte das seiner Funktion als Unparteiischer abträglich sein, und das Spiel müsste womöglich abgebrochen werden.
Das wollen wir nicht, sondern wir wollen, dass unser Schöpfer das Spiel gewinnt, ohne mogeln zu müssen, und wir können ihn dabei unterstützen. Darum wollen wir den Über-Gott in keiner Weise beeinflussen; tun wir einfach so, als existiere er überhaupt nicht. Das Werk unseres Gottes aber wollen wir zum Erfolg führen, und darum lasst uns ihn anbeten, alle seine Regeln hübsch befolgen und bei Befehlen niemals nach dem Warum fragen."
Niemand war mehr da, außer Swantje und mir. Die anderen Zuhörer waren bereits während des Vortrags gegangen. Wir sahen uns verunsichert an: applaudiert man nach einem theologischen Vortrag in einem Gotteshaus?
Die Antwort erübrigte sich; als wir wieder auf das provisorische Pult sahen, das vor dem Altar aufgestellt war, war der Redner bereits verschwunden.
Dann blickten wir uns nochmals in die Augen und hatten den gleichen Gedanken: die Bänke in der Kirche sind zwar recht ungemütlich, aber wenn man schon einmal da ist...

Der Zug war abgefahren. Missmutig sah ich aus dem Fenster und musste feststellen, dass wir uns ständig im Kreis bewegten, obwohl wir nie zwei Mal an dieselbe Stelle kamen. Ich fühlte mich unwohl und wäre am liebsten ausgestiegen, wäre die Bahn nicht so schnell gefahren. Auch hatte der Zug keine Notbremse, genauso wenig wie einen Lokführer.
Die kränkliche Fichte lehnte sich zurück und versuchte zu schlafen, der Spatz pickte zwischen den Sitzen nach Essensresten, die Antilope sah gelangweilt hinaus, und der Delfin summte eine leise Melodie vor sich hin.
Die Sonne mit ihrem albernen Schaffnerkäppi sah übel gelaunt und beinahe mitleidig in unser Abteil, und ich fragte sie nach dem nächsten Bahnhof.
"Der nächste Halt ist Autolys, aber das wird noch ein paar tausend Jahre dauern. Warum?"
"Weil ich endlich aussteigen will!"
"Ein Aussteiger", lachte sie, und ihr Gesicht erhellte sich. Sie grinste mich böse an und sagte: "Da wird dir auch gar nichts anderes übrig bleiben."
Das verwirrte mich, und ich wollte den Grund wissen. "Autolys ist Endstation für die Menschheit, und da werden alle von deiner Sorte den Zug verlassen müssen. Und dann" - sie geriet ins Schwärmen - "und dann werden wir euch euren Müll hinterherwerfen, die Fenster aufreißen und ein neues Lied singen, ein Danklied der Schöpfung, wie es die Erde noch nie gehört hat! Wir werden uns bei den Händen, Flügeln, Flossen und Zweigen fassen und den Freudentanz der siegreichen Natur vollführen."
"Und wenn unsere Wunden geheilt sind", fiel jetzt der Delfin ein, "eure Gifte abgebaut, unsere Tränen getrocknet und euer Gestank verflogen, werden wir jedes Andenken an euch auslöschen, und unsere Kinder und Kindeskinder werden nicht einmal erfahren, dass ihr jemals mitgefahren seid."
"Eure Bauten werden wir schneller überwuchern als ihr gebraucht habt, um sie auf die Erde zu setzen", fügte das Moos hinzu, "und eure Straßen werden spurlos unter uns verschwinden."
Alle Blicke waren inzwischen auf mich gerichtet - halb ängstlich, weil ich, der Zerstörer, noch immer unter ihnen war, halb schadenfroh, weil sie wussten, dass meine Jahre gezählt waren.
"Und das einzige, was bleiben wird", sagte die Sonne mit trauriger Genugtuung, "ist die Erinnerung an die lieben Freunde, die ihr auf dem Gewissen habt."
"Das stimmt nicht", murmelte ich kleinlaut und beachtete nicht die Gesichter der anderen, die diese Behauptung mit argwöhnischen Blicken quittierten. "Wir haben kein Gewissen."
Sie sprachen wieder, alle durcheinander. Ich hörte ihre lauten Stimmen, aber ich verstand sie nicht, ich sah ihre feindseligen Blicke, aber ich ertrug sie nicht. Ich öffnete das Fenster, kletterte hinaus und sah noch einmal in die schadenfrohen Gesichter der Mitreisenden, bevor ich mich in das Alles stürzte.

"Worum dreht es sich?" fragte der General.
"Um die Sonne", erwiderte Gobs und trat ein. "Auf dieser Erde dreht sich alles um die Sonne."
"Ich wollte wissen, weshalb Sie gekommen sind."
"Damit sie sich weiter dreht."
Gobs wusste, dass seine Mission hier keinen Gläubigen finden konnte. Der General vertrat die USA; seine Mutter war eine englische Jüdin, sein Vater ein weißer Amerikaner, und er selbst hatte auf eigenen Wunsch in drei Armeen gedient und die Palästinenser in Palästina, die Vietnamesen in Vietnam und die Iren im Norden Irlands bekämpft. An den Wänden seines Büros hingen die Trophäen, die er und seine Vorfahren gesammelt hatten: der versteinerte Schatten eines Kindes von Hiroshima, der Skalp eines Indianermädchens, das Herz eines Arabers, der Schrumpfkopf eines Afrikaners und vieles mehr. Über allem war in goldenen Lettern der Sinnspruch "Nichts Fremdes ist mir menschlich" angebracht.
"Es ist nicht einzusehen", erklärte Gobs zu dem Schriftstück, das er dem General überreicht hatte, "dass die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, allen voran die Vereinigten Staaten, diese Sonderstellung haben, die es ihnen ermöglicht, die UNO für ihre Zwecke zu missbrauchen und ihre Entscheidungen zu sabotieren. Die Vereinten Nationen dürfen nicht länger das Mittel zur Weltherrschaft bleiben."
"Es ist das natürliche Recht der Amerikaner, die Welt zu beherrschen", antwortete der General gelassen, um dann aufzubrausen: "Und jetzt raus hier!"

Im Altosten wartete ich auf Swantje, die schließlich etwas nervös und entnervt auftauchte. Sie ließ ihren Mantel an und setzte sich nicht einmal.
"Stell dir vor", sagte sie, "letzte Woche schicken sie mich noch auf einen Lehrgang, und heute haben sie mir gekündigt. Ich bin fertig mit den Nerven."
Langsam beruhigte sie sich etwas. "Sei mir nicht böse", fuhr sie fort, "aber heute Abend möchte ich allein sein. Treff ich dich morgen um acht wieder hier?"
Ich nickte, und schon war sie gegangen. Ich trank aus und machte mich ebenfalls auf den Heimweg.
Die Wirtin war nicht da; ich hatte weder zum Ausgehen noch zum Lesen Lust, und so beschloss ich, zur Abwechslung einmal den tragbaren Fernseher einzuschalten, den die alte Dame in den Abstellraum verbannt hatte.
Dort saß ein Jugendlicher auf dem Boden und demontierte einen Plattenspieler.
"Ich will nur sehen, wie er funktioniert", erklärte er mir, "dann baue ich ihn wieder zusammen."
Die Sendungen Strafexpeditionen ins Tierreich und Schulmädchen auf der Ersatzbank müssten leider entfallen, kündigte die Sprecherin an. Stattdessen würde man ausführlich über den Mord an UNO-Generalsekretär Gobs berichten.
Das Attentat war nach alter amerikanischer Tradition gefilmt worden. Gobs verlässt gerade das UNO-Hauptquartier in New York, als er von einer Kugel in den Kopf getroffen zusammensinkt. Über den Standort des Täters herrschte Unklarheit, und auch eine Zeitlupe des Mordvideos kann keinen Aufschluss über die Schussrichtung geben.
Nach einer hinhaltenden Stellungnahme des Gerichtsmediziners und widersprüchlichen Augenzeugenberichten wurden Ausschnitte aus der letzten Rede Gobs ausgestrahlt, die er am Vortag gehalten hatte: einem Plädoyer für die Abschaffung des Vetorechts.
"(...) Die Palästinenser sind in ihrer eigenen Heimat ebenso vogelfrei wie die Indianer in der ihren. Beides ist den Amerikanern anzulasten, die Aktionen zur Herbeiführung menschenwürdiger Verhältnisse mit unglaublicher Zähigkeit durch ihr Veto verhindern. Aber nicht nur die USA, alle ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats benutzen ihr Vetorecht, um ihre eigenen Interessen und die befreundeter Mächte durchzusetzen. Sie lähmen die Arbeit der UNO, ja, sie machen diese Organisation an sich überflüssig, und abgesehen von der Erhaltung ihrer Vormachtstellung gibt es nicht einen plausiblen Grund, der das Vetorecht rechtfertigen würde.
Unsere Initiative zur Beseitigung dieser Arbeitsverhinderung muss erfolglos bleiben, wir hoffen aber, damit eine größere Öffentlichkeit auf den Unwillen ihrer Regierungen zu einem friedlichen Miteinander der Völker und Nationen aufmerksam machen zu können und die betreffenden Regierungen auf diese Weise unter Druck setzen zu können."
Als man dann über das Tatmotiv spekulierte, schaltete ich ab. Es würde sich ganz bestimmt wieder ein Wahnsinniger finden, der ohne jedes Motiv geschossen hatte.

"Es ist entsetzlich", hörte ich am nächsten Morgen im Café.
"Diesem Kerl sollte man den Kopf abschlagen!"
"Was wohl in so einem Mann vorgeht?"
"Bestimmt ist er im Kopf nicht ganz richtig."
"Deshalb: abschlagen!"
"Sie war doch noch so klein..."
Als die alten Damen sich endlich von der Zeitung trennen konnten, warf ich einen Blick hinein. Der Kinderwürger und sein drittes Opfer mussten sich diesmal mit der Seite zwei begnügen; die Titelseite wurde von Gobs beherrscht, außerdem wurde den erleichterten Lesern mitgeteilt, dass nach einer israelischen Säuberungsaktion ganz Jerusalem araberfrei war.
Die Bedienung brachte mir einen Teller mit einer Tomate, die auf Streichhölzer gebettet und mit der Scherbe einer Blumenvase garniert war. Ich nickte höflich, zerriss das Titelblatt der Zeitung, ließ die Fetzen auf die Tomate rieseln und goss meinen Mokka darüber. Der Kellner bedankte sich und ging mit dem Teller zum nächsten Tisch.
Auf der letzten Seite fand ich dann einen bösen Kommentar gegen die EG, in dem insbesondere das viel zitierte Demokratiedefizit dieser Institution bemängelt wurde. Ich selbst freue mich über jede Grenze, die verschwindet, und mir ist es auch völlig egal, ob ich mich von einem Parlament oder einem Clan von Regierungschefs bevormunden lassen muss; ich verstehe nur nicht, dass auch demokratische Länder diesen oligarchischen Zirkus mitmachen.

Swantje schlief noch, und so stand ich leise auf und ging zum Fenster.
Draußen war Sonntag. Die Straße war leer und still; nur die Kirchenglocken, die mich geweckt hatten, bimmelten ununterbrochen.
Swantje war jetzt schon eine Woche arbeitslos. Eine Woche lang hatten wir uns so gut wie gar nicht voneinander getrennt, und mein Interesse an ihr zeigte erste Ermüdungserscheinungen. Gewiss, sie war hübsch und hatte einen bezaubernden Körper, aber selbst einen Menzel kann man nicht ein Leben lang betrachten, ohne sich zu langweilen.
Obwohl ich schon lange nicht mehr in der Goethestraße gewesen war, behielt ich doch mein Zimmer, um mir den Rückweg offenzuhalten. Seltsamerweise hatte Swantje mich niemals danach gefragt, und das war mir recht so.
Ich warf die Kaffeemaschine an und schmierte Brötchen. Zu Hause schmeckte der Kaffee besser, da ich ihn von Hand aufgoss - aber wenn man sich die Mühe sparen konnte, warum nicht? Ich schloss die Augen und ging weiter, immer geradeaus. Sehr weit kam ich allerdings nicht, denn bald schon stand ich vor der Mauer in unseren Köpfen und hob die Sprühdose. Da mir aber nichts einfiel, was ich an die Mauer hätte schreiben können, senkte ich den Arm wieder und las die Bekenntnisse der anderen, die sich hier verewigt hatten.
"Der Klügere gibt auf", stand da, einer hatte die Parole "Verbrennt das Rutenbündel!" ausgegeben, und ein Dichter verkündete: "Ohne Sinn ist dieses Leben, kann man ihm nicht einen geben." Ein Mathematiker hatte sich an zwei Gleichungen mit keiner Unbekannten versucht:

"Mit Gewalt keine Veränderung
Ohne Gewalt keine Veränderung"

Das Ganze wurde folgerichtig zu "Mit gleich ohne" aufgelöst und mit uns multipliziert. "Mit uns gleich ohne uns", hieß es nun, oder, anders formuliert: "Mit uns, ohne uns - ganz gleich."
"Sehen Sie?" fragte jemand neben mir.
"Ich sehe immer."
"Und was sehen Sie?"
"Bären und Wälder, Wölfe und Eiswüsten, Wale und Ozeane, Adler und Gebirge, Menschen und Mauern..."
"Was für Menschen?"
"Nun, arme und reiche, junge und alte, kluge und dumme..."
"Du siehst nur ihre äußeren Leben", belehrte mich der Fremde, "das körperliche und das geistige. Nimm diese Augensalbe, und du wirst ihr seelisches Leben sehen."
Im nächsten Moment war er verschwunden und ließ mich mit einem Fläschchen zurück. Ich bestrich meine Lider mit der Flüssigkeit und öffnete wieder die Augen. Der Kaffee war fertig, und ich stellte das Frühstück aufs Tablett, um es Swantje ans Bett zu bringen. Die Fotos an den Wänden schienen plötzlich nur noch Totenköpfe und Skelette zu zeigen, aber ich achtete nicht darauf. Swantje hatte die Decke über sich gezogen, und als ich sie zurückschlug, trat ich angewidert zurück und ließ das Tablett fallen. Ihr Körper war fast vollständig verwest, es hingen nur noch wenige Hautfetzen an den Knochen, und der ekelerregende Gestank war selbst für jemanden, der lange Zeit neben einer Schokoladenfabrik gewohnt hat, unerträglich. Als ich dann an mir herunterblickte, musste ich feststellen, dass weder mein Aussehen noch mein Geruch sich von dem ihren unterschieden.

Schon wieder klingelte das Telefon, und der Polizeichef nahm gereizt ab.
"Herr Präsident", antwortete er dann in wesentlich moderaterem Ton. "Nein, in Sachen Gobs gibt es nichts Neues."
"Das kann doch nicht wahr sein! Das Volk geht auf die Straße, und wenn der Fall nicht bald abgeschlossen ist, kann ich meine zweite Amtsperiode abschreiben."
"Wir tun ja alles, was in unserer Macht steht, Herr Präsident, aber bisher haben wir nicht den leisesten Hinweis auf den Täter."
"Auf welchem Planeten leben Sie eigentlich? Das ist doch nicht der erste Mordfall dieser Art, und es geht nicht darum, den Täter zu finden, sondern einen Schuldigen!"

Lange hoffte ich noch, die Wirkung der Salbe würde mit der Zeit nachlassen. Aber seit den Vorgängen im Garten Eden hat sich nichts geändert: Erkenntnis ist nicht rückgängig zu machen, und wer zu ihr gelangt ist, der hat auch die Konsequenzen zu tragen.
Auf die schrillen Szenen und skurrilen Erlebnisse, von denen ich seither geplagt werde, will ich nicht weiter berichten. Nur eines sei am Rande erwähnt: einen lebenden Erwachsenen habe ich niemals wieder gesehen.

Am Abend waren ich und Swantje wieder einmal im Altosten. Die letzten freien Plätze fanden wir am Tisch in einer Nische, an dem bereits ein Pärchen, das scheinbar auf Urlaub hier war, saß. Neben dem Mädchen stand ein Rucksack auf dem Boden, und der junge Mann hatte eine Kamera um den Hals gehängt.
Sobald ein neuer Gast eintrat, blickten die beiden zur Tür. Als dann ein graumelierter Endvierziger mit fröhlicher Goldgräbermiene hereinkam, stieß der Mann das Mädchen an.
"Das ist einer", sagte er, und sie strahlte den Neuankömmling an, als sei ihr der Traummann schlechthin begegnet. Nachdem dieser auch einige Male zu ihr hinübergeblickt hatte, nahm sie ihr Glas und ging zu ihm, während ihr Begleiter seine Kamera vorbereitete.
Die beiden flirteten recht intensiv, doch sobald sich ihr Gesicht dem seinen näherte und unser Tischnachbar schon durch den Sucher blickte, wandte er sich von ihr ab. Die beiden lachten über eine Bemerkung, sie legte die Hand auf sein Knie, aber noch bevor ihr Freund den Auslöser drücken konnte, wurde ihre Hand schon wieder dezent entfernt. Nach einiger Zeit verabschiedete sie sich und kehrte an unseren Tisch zurück.
"Nichts zu machen", berichtete sie deprimiert. "Glücklich verheiratet, zwei Kinder, kein Interesse an anderen Frauen."
"Oder er hat gemerkt, was läuft."
"Wolltet ihr ihn etwa erpressen?" fragte Swantje entsetzt.
"Ich denke, Erpressung ist nicht ganz das richtige Wort", erklärte der junge Mann. "Es handelt sich um einen Arbeitgeber, und wenn ich meiner Bewerbung ein paar bestimmte Fotos beifügen konnte, würde das meine Chancen auf einen Arbeitsplatz erheblich verbessern."
"Den größten Reinfall haben wir gestern erlebt", berichtete uns das Mädchen. "Ein widerlicher alter Kauz, dessen Körper ganz und gar aus Fettpolstern bestand. Er biss an, ließ sich in unsere Wohnung locken und hat mich dreimal bestiegen. Christoph hat zwei ganze Filme verknipst, und dann stellte sich heraus, dass das Schwein geschieden war und die ganze Arbeit völlig umsonst."
Der Fotograf hatte inzwischen seine Jacke angezogen. "Komm", sagte er zu seiner Partnerin, "wir versuchen es noch mal woanders."
"Viel Glück bei der Arbeitssuche" wünschte ich ihm, aber er hörte mich nicht mehr.

Heute hatte Swantje einige Vorstellungsgespräche, und wir verabredeten, uns mittags im Schlosspark zu treffen. Es war schon recht kühl, und ich war froh, meinen gefütterten Mantel doch nicht zum Secondhandladen gebracht zu haben.
Ich setzte mich auf eine Parkbank und las die Zeitung. Der Mörder des UNO-Generalsekretärs war gefasst worden: Sean Capegoat, ein junger Mann, der erst vor wenigen Wochen aus einer psychiatrischen Anstalt entlassen worden war. Zur Tatzeit soll er sich im Zustand völliger geistiger Umnachtung befunden haben; ein Zeuge hatte behauptet, Capegoat habe am Tatort geäußert, von Gott den Auftrag zur Ausrottung des Antiamerikanismus erhalten zu haben.
In einer nahegelegenen Stadt, in der vor einigen Jahren ein Atomkraftwerk in Betrieb genommen wurde, stellte man fest, dass sich in dieser Zeit die Zahl der Leukämiefälle in der Region verdreifacht und die Kindersterblichkeit verdoppelt hatte. Der Betreiber und die Regierung betonten, es würde kein Anlass zur Annahme bestehen, dass die Anfälligkeit der Einwohner mit dem Kraftwerk in Zusammenhang stehen könnte, und wiesen Forderungen nach einer Abschaltung entschieden zurück.
In Amerika häuften sich die Fälle von Geschäftsreisenden, bei denen sich bösartige Tumore hinter den Ohren bildeten, und ein Arzt hatte die Vermutung geäußert, diese würden durch die Wellen der Funktelefone verursacht. Die Hersteller ließen die Produktion sofort einstellen und kündigten eine eingehende Untersuchung an.
Die Spur, die man vom Kinderwürger zu haben glaubte, hatte sich verflüchtigt. Bei seinem dritten Opfer wurde ein Schal gefunden, wie er von Tausenden getragen wird, und die Polizei hatte Hinweise auf Tausende von Verdächtigen erhalten.
Die Lage in Bimini hatte sich entschärft. Nachdem biminische und amerikanische Truppen mehrere Demonstrationszüge zusammengeschossen hatten, war wieder Ruhe eingekehrt. Die treibenden Kräfte des Aufstands waren verhaftet oder gleich getötet worden, und die Mitläufer hatten aufgegeben.
Neben der Bank spielte ein kleines Mädchen mit diversen Puppen. Zunächst war es das übliche Mutter-und-Kind-Spiel ("Komm jetzt zum Essen, oder ich schlag dich grün und blau!"), bis der Vater zurückkam, dessen Part die Kleine persönlich übernahm.
Er mäkelte erstmal am Abendessen herum und blickte dann zu seiner Tochter hinüber. "Sieh mich nicht so an", sagte er zu ihr, "du weißt genau, was dann passiert."
"So, das langt", schrie er kurze Zeit später, stand auf und riss sie vom Tisch fort.
Die junge Schauspielerin war jetzt so richtig in Fahrt gekommen. Sie riss der Tochterpuppe die Kleider vom Leib, warf sich auf sie und begann ihr Becken auf und nieder zu bewegen.
"Stell dich nicht so an, du geiles Luder, du hast es ja so gewollt!"
Eine ältere Dame, vermutlich die Aufsichtsperson, setzte sich zu mir und bewunderte das Kind.
"Die Tochter des Bürgermeisters", erklärte sie mir. "Ein aufgewecktes Kind, nicht wahr?"
Einen Augenblick lang fühlte ich, dass ich die Kleine an mich reißen und mit ihr fliehen musste. Ich würde sie mit mir nehmen in eine Welt voller Liebe, Herzlichkeit und Aufrichtigkeit, eine Welt, in der die Menschen an sich alle dachten und nicht an sich selbst, eine Welt, in der sie ihre Furcht und ich meinen Zynismus verlieren musste. Diese Welt aber existiert nur in meinem Innern, und ich kann zwar in mich gehen, habe aber nicht genügend Kraft, noch jemanden mitzunehmen. So schluckte ich einfach und sah wieder in meine Zeitung.

Immer wieder wird geschrieben
wir, die diese Welt entweihn,
sollten unsern Nächsten lieben,
und wir sollten menschlich sein.

Menschlich sein heißt nicht verstehen
den, der anders ist gesinnt,
menschlich sein heißt Feinde sehen
wo Geschwister, Freunde sind.

Menschlich sein heißt zu umzäunen
das, was einem nicht gehört,
heißt auch alles zu verneinen,
was das eigne Weltbild stört.

Menschlich sein heißt zu vererben
was man andern hat geraubt,
menschlich sein heißt den verderben,
der an etwas andres glaubt.

Menschlich sein heißt zu vernichten
den, der nur sein Recht erfleht,
menschlich sein heißt auch zu richten
den, der über einem steht.

Menschlich sein heißt zu entkleiden
die, die schon in Gräbern ruhn,
menschlich sein heißt Gutes meiden,
menschlich sein heißt Böses tun.

Darum stört es mich auch nicht,
nein, es ist mir eine Ehre,
sagt ein Mensch mir ins Gesicht
welch ein Unmensch ich doch wäre.

Inzwischen spielten Dutzende von Kindern im Park, die Hoffnung der Zukunft. Nein, diese lieben, aufgeschlossenen kleinen Menschen konnten gar nicht zu den stumpfsinnigen, angepassten Antiindividuen heranwachsen, wie sie die Generation ihrer Eltern ausmachten. Und doch: gab es nicht schon vor zwanzig, hundert, tausend Jahren Kinder, die als Träger derselben Erwartung kläglich versagten?
Natürlich, diese Kinder werden später einmal ebenso verantwortungslos handeln wie die Generationen vor ihnen; auch sie werden es später einmal besser gehabt haben sollen. Aber bevor ich meine Hoffnung begrabe, pflanze ich sie lieber in diese kleinen Menschen. Im Ergebnis macht das keinen Unterschied, aber es ist ein schöneres Gefühl.
Langsam wurde mir auch bewusst, weshalb ich mich trotz meiner Abneigung damit abfinden wollte, mein Leben mit einer Frau zu teilen: nämlich um Kinder zu haben. Und ein Mann, der sich diesen Wunsch erfüllen will, muss eben auch eine Partnerin in Kauf nehmen. (Wie einfach es da doch die Frauen haben!)
Swantje setzte sich neben mich, und ihr missvergnügter Gesichtsausdruck verbot mir, nach dem Erfolg ihrer Bemühungen zu fragen. So sahen wir stumm auf den Park hinaus, und ich beobachtete interessiert die ersten Gehversuche eines pummeligen Mädchens.
"Ich hasse Kinder", sagte Swantje plötzlich. "Sie sind dumm, laut und aufdringlich." Es war mir, als ob in meinem Bauch etwas sterben würde.

In der Folgezeit hatte Swantje recht viele Vorstellungsgespräche (das behauptete sie zumindest), die allesamt ohne Erfolg blieben. Ich ging währenddessen meist in mein altes Zimmer, um dort in Ruhe zu lesen.
Eines Tages beschloss ich, auch einmal wieder Staub zu wischen, und musste wohl oder übel die Abstellkammer betreten. Diesmal saß dort ein junger Mann, der einer kleinen Elfe die Flügel, die Arme und schließlich die Beine ausriss. Das zierliche Wesen schrie und weinte, doch der junge Mann versprach ihr: "Ich will ja nur sehen, wie du funktionierst, danach setze ich dich wieder zusammen."
Als ich am Abend den Altosten betrat, flirtete Swantje recht intensiv mit einem jungen Schönling und ließ sich auch durch meine Anwesenheit nicht beirren. Sie stellte uns einander vor und gab sich unbefangen, und in diesem Augenblick hatte ich das dringende Bedürfnis, unter unsere Beziehung einen kräftigen Schlussstrich zu ziehen. Irgendetwas hinderte mich aber daran, und nach kurzer Zeit verabschiedete sich der Beau, dem die Situation offensichtlich am unangenehmsten von uns allen war.
Gleich danach kam Swantje dann auf das Thema zu sprechen, das sie scheinbar schon den ganzen Abend beschäftigte.
"Wir sind über Weihnachten bei meinen Eltern eingeladen. Ist das nicht toll?"
"Ich möchte Weihnachten aber nicht feiern", erwiderte ich.
"Warum denn nicht? Hast du Angst vor meinen Eltern?"
"Nein, wo denkst du hin? Ich würde deine Eltern liebend gern kennenlernen, und ich schätze, dass ich da nicht der einzige bin. Aber ich möchte kein Weihnachten feiern, weil es das Fest der Ausbeutung, der Unterdrückung und des Konsumrauschs ist."
"Was meinst du damit?"
"Damit meine ich den Mann bei der Kakaoernte, der vergeblich versucht, seine Familie zu ernähren, der weiß, dass er dazu gar nicht schnell genug arbeiten kann, der mit seinem letzten vollen Korb an der Abgabestelle zusammenbricht und dessen Tod in deinen Lebkuchen gebacken wird.
Ich meine die Mutter, die ihre Kinder nicht satt bekommen kann, deren kleine Tochter gerade verhungert ist, die aber wie an jedem anderen Tag Zimt schälen muss, damit die anderen noch ein wenig leben können, und deren Tränen in deinen Glühwein fließen."
"Bist du unromantisch!" schrie sie mich an und begann zu weinen.
Nachdem sie ein paar Mal schluchzend nach Luft geschnappt hatte, fragte sie plötzlich, warum denn die Männer niemals weinen würden.
"Wir Männer weinen auch, nur anders als Frauen. Ein Mann weint, weil ihn etwas betrübt, weil er wütend oder eifersüchtig ist und nicht, um damit etwas zu erreichen. Aus diesem Grund weinen die Männer allein."
"Geh weg", sagte Swantje und verbarg ihr Gesicht in den Händen, "geh einfach nur weg!"
Erleichtert verließ ich das Lokal in der festen Überzeugung, dies sei ein endgültiger Abschied gewesen.
Ein neuer Winter war gekommen, und ein feiner weißer Schleier legte sich auf das Vergängliche. Ich stapfte durch den weichen Schnee nach Hause und sagte ein paar Worte vor mich hin - Worte ohne Zusammenhang, in allen Sprachen, manchmal auch welche, die einfach meiner Fantasie entsprangen: alle Worte, die ich im Augenblick als schön empfand, und das waren nicht wenige. Mochten die anderen denken, ich führte Selbstgespräche - das war mir gleichgültig.

In jener Nacht wurde mir eine Auszeichnung zuteil, die nur wenigen vergönnt ist, auch wenn sie Außenstehenden als Lappalie erscheinen mag: ich träumte vom Weißen Büffel. Zunächst sah ich nur eine Büffelherde auf einem Plateau, die von einer Menschengruppe (ich befand mich in der ersten Reihe und konnte die anderen nicht sehen) auf einen Felsvorsprung zugetrieben wurde. Plötzlich stürmten von beiden Seiten weitere Menschen auf die Herde zu und warfen mit Hakenkreuzen nach den Tieren, die allesamt in den Abgrund stürzten.
Lediglich der Weiße Büffel, der an Größe alle anderen weit überragte, blieb stehen, wandte sich um und ging bedächtig auf mich zu.
"Hier ist es nicht mehr gut, Weißer Bruder. Die Menschen sind gekommen, den Weißen Büffel zu töten. Sie werden ihm lachend das Fell abziehen, um ihre Frauen im Sommer zu kleiden. Sein Fleisch werden sie unter der Sonne verwesen lassen, und es sind nicht einmal Geier hier, die sein Herz fressen und seine Kraft erben könnten.
Hier ist es nicht mehr gut, Weißer Bruder. Die Menschen haben das Gras verbrannt und das Land verwüstet. Sie waschen ihre Kleider mit Asche, und sie geben ihren Kindern Versprechungen zu essen.
Hier ist es nicht mehr gut, Weißer Bruder. Das Weideland ist kahl gefressen, und die Menschen sind näher gekommen.
Wir müssen gehen."

Am nächsten Morgen erhielt ich den ersten Besuch vom Gerichtsvollzieher, der schon auf den ersten Kennerblick feststellte, dass hier nichts zu holen war.
Nachdem er Schränke und Schubladen oberflächlich inspiziert hatte, fragte er: "Und was ist in diesem Überseekoffer?"
"Die persönlichen Dinge meiner Vermieterin", erklärte ich, "beziehungsweise die ihres verstorbenen Mannes. Dies war nämlich sein Arbeitszimmer, und sie hat anderswo in der Wohnung keinen Platz dafür."
Meine Wirtin bestätigte dies, worauf sich unser Gast nochmals dafür entschuldigte, uns geweckt zu haben, die Einladung zum Frühstück ausschlug und sich verabschiedete.
Der Schnee lag jetzt zwanzig Zentimeter hoch, und es dauerte einige Zeit, bis ich mich zum Arbeitsamt durchgekämpft hatte. Nach der Meldung zog es mich wieder in mein Café, wo ich einmal mehr die Zeitung studierte. Der Kinderwürger hatte das vierte Mal zugeschlagen. Diesmal war er in ein Kinderzimmer eingebrochen und hatte sein vierjähriges Opfer im Schlaf erdrosselt. Auf der Flucht hatte er einen gestrickten Handschuh verloren, der - nach Auffassung der Polizei - recht einzigartig war und für den weitaus weniger mögliche Besitzer in Betracht kamen als seinerzeit für den Schal. Ein Foto des Handschuhs war abgedruckt, und es wurde gebeten, sich mit Hinweisen an die Polizei zu wenden.
Keine Mordserie, so hieß es, habe die Stadt seit vierzig Jahren so erschüttert; seit der des Kindermörders Josef Tischbein, der seinen Opfern die Bäuche aufschlitzte, die Eingeweide entnahm und schließlich auf genau dieselbe Art und Weise getötet wurde: nach der Aufklärung der Morde und dem Erlassen des Haftbefehls hatte die Mutter des Täters seinen Aufenthaltsort nicht der Polizei, sondern den aufgebrachten Eltern der Ermordeten mitgeteilt.
Außerdem wurde in der letzten Nacht ein Haus niedergebrannt, in dem sich die Betriebswohnungen ausländischer Arbeitnehmer befanden, die in der gegenüberliegenden Papierfabrik beschäftigt waren. Vier Menschen, ein Mann und drei Kinder, kamen in den Flammen um. Der Polizei fehlte jede Spur, politische oder ausländerfeindliche Motive wurden jedoch wieder einmal mit Sicherheit ausgeschlossen.
Ich trank aus und ging; ich wusste nicht wohin, ich ließ mich einfach treiben. Ich atmete die frische Winterluft, ließ mir die Schneeflocken auf die ausgestreckte Zunge fallen und genoss den ersten Tag meiner Freiheit. Ich spazierte durch Straßen, die ich niemals vorher gesehen hatte, und stand plötzlich vor Swantjes Haustür.
Ob sie noch böse auf mich war? Ob sie sich (auch wenn sie ein Mädchen war) selbst Vorwürfe machte? Ich läutete, und als ob sie bereits hinter der Tür auf mich gewartet hatte, öffnete sie im selben Moment und fiel mir um den Hals.
Dann warf sie ihren Mantel über, nahm mich bei der Hand und brachte mich in den Wald.
Sie freute sich wie eine Schneekönigin. Sie war eine Schneekönigin. Sie lief mir davon und warf aus dem Versteck mit Schneebällen, sie zerrte mich auf die Erde und versuchte, mich einzuseifen. Sie baute mit mir einen unförmigen Schneemann, der dem Weißen Büffel nicht unähnlich war. Am Nachmittag gingen wir zurück. Sie fror und hatte klamme Hände. Auf meine Frage, weshalb sie keinen Schal und keine Handschuhe mitgenommen habe, ging sie nicht ein und machte uns stattdessen einen Glühwein.

Nachdem sie Swantje abgeholt hatten, ging ich mit dem halbvollen Glas auf und ab. Ich trank aus und sah nach der abgeschlossenen Kassette, die sie unter dem Bett verwahrt hatte. Nach einiger Zeit gelang es mir, das Schloss zu knacken, und zum Vorschein kam eine Sammlung von Briefen. Zunächst beschloss ich, sie nicht zu lesen, doch schließlich siegte die Neugier. Es waren keine Liebesbriefe - wenigstens nicht im eigentlichen Sinn -, sondern Bittbriefe.
Jeder Schreiber bat sie, doch wieder zu ihm zurückzukommen, es sich noch einmal zu überlegen, ihm noch eine Chance zu geben usw. Wie man den Briefen entnehmen konnte, hatte sie all ihre Liebhaber "Elskhugi" genannt, und mit jedem Neuen hatte sie in der Gegenwart seines Vorgängers angebandelt; die letzten Briefe stammten vom Kellner des Cafés, in dem wir uns kennengelernt hatten.
All diese flehentlichen Bitten, Selbstbemitleidungen, Selbstvorwürfe und Selbstmorddrohungen hatte sie also wie Trophäen gesammelt, und ich war der einzige, der ihr entkommen war. Das redete ich mir zumindest ein.
Ich hatte nicht die Kraft, nach Hause zu gehen, und so verbrachte ich die letzte Nacht in ihrem Wasserbett, wehmütig daran denkend, dass ich hier niemals wieder meinen unehelichen Pflichten nachkommen würde.
Am Morgen nahm ich Abschied von den gemeinsamen Erinnerungen und machte mich auf den Heimweg. Als ich die Wohnung in der Goethestraße betrat, strömte mir ein feiner Geruch von Eisen entgegen, und etwas Unheilvolles lag in der Luft.
Auf dem Küchentisch lag die Zeitung, was an sich nichts Außergewöhnliches war. An diesem Tag aber sah sie aus wie ein Abschiedsbrief.
Auf der aufgeschlagenen Seite wurde ausführlich über einen Prozess berichtet, der gegen die Leitung eines Kinderhilfswerks angestrengt wurde - eben des Kinderhilfswerks, an das meine Wirtin seit Jahrzehnten jeden Groschen, den sie entbehren konnte, spendete und an das ich auch meine Mietzahlungen zu leisten hatte. Durch fünfstellige Gehälter der Funktionäre und gefälschte Spesenabrechnungen fielen Personalkosten in Höhe von 98% der Spendeneinnahmen an.
Die alte Dame lag in der Badewanne. Das Wasser war blutrot gefärbt, und jede Hilfe kam zu spät. Die siebenundneunzigjährige Frau hatte sich das Leben genommen.

Der Prozess gegen S Capegoat (dessen Name die amerikanische Presse zu geistigen Höhenflügen durch Wortspiele wie "escape, goat" oder "scapegoat" veranlasste) war ein äußerst zügiger. Trotz seiner angeblichen Unzurechnungsfähigkeit wurde er zum Tod verurteilt. Erstmalig in der Geschichte sollte die Hinrichtung nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden; man hatte den Termin aus Rücksicht auf die europäischen Fernsehzuschauer sogar auf den Vormittag gelegt.
Das Morden im Krieg ist meist abstrakter Natur. Man schießt auf weit entfernte Figuren, oder man wirft eine Bombe auf eine Stadt und bringt ein paar Tausend liebenswerte Menschen um, die man nie gekannt hat und niemals kennenlernen wird.
Aber dieses Töten ist etwas anderes, etwas Konkretes. Es ist keine Kriegshandlung, sondern ein Verwaltungsakt. Der Beamte, der vermutlich weiß, wie dünn die Beweislage war, der vielleicht auch selbst davon überzeugt ist, dass die wenigen Indizien gegen den Verurteilten vom Geheimdienst fingiert wurden, tötet einen Menschen, betätigt die Stempeluhr, isst mit der Familie zu Abend, bringt die Kinder ins Bett und berichtet seiner Frau vom Arbeitstag: dass seine Sekretärin heiratet oder dass jemand Reißzwecken auf die Hinrichtungsliege gestreut hat.
Ich weiß nicht genau, weshalb ich zusah. Ich denke, es war hauptsächlich der Versuch nachzuvollziehen, was die Massen an dieser barbarischen Zeremonie so faszinierte. Der Versuch blieb erfolglos.
Das bereits narkotisierte Opfer wurde auf der Liege in die Hinrichtungskammer geschoben. Dort wurde die Injektionsnadel in seine Armbeuge gesteckt, die durch einen dünnen Schlauch mit den giftigen Ampullen verbunden war. Der Saal wurde vom Tötungspersonal geräumt und abgeschlossen. Auf dem Bildschirm war nunmehr der Verurteilte zu sehen, wie er angeschnallt auf der Matratze lag, während auf die Ecken des Bildschirms vier kleinere Aufnahmen projiziert wurden: oben links das reglose Gesicht in Nahaufnahme, unten links die Gehirnströme, unten rechts die Herzfunktionen und oben rechts die Giftspritzen (ich glaube, es waren vier). Der Berichterstatter begann gerade damit, ihre Funktionen im Einzelnen zu erläutern, als der Aufsatz der ersten durch Fernbedienung hinuntergedrückt und die Flüssigkeit durch den Schlauch gepresst wurde. Ich hatte das Bad noch nicht erreicht, als ich mich übergab.

Wahre Freundschaften gehen über den Tod hinaus, denn sie sind seelische Verbindungen. Deshalb halte ich es für unsinnig, auf Beerdigungen zu gehen und Abschied von einem Körper zu nehmen, der ohnehin nichts mehr wahrnimmt. Aber ich wusste, dass meine Wirtin anders darüber gedacht hätte, und so machte ich mich doch auf den Weg zur Friedhofskapelle.
Silke war die einzige Verwandte (ihre Eltern mussten arbeiten); die übrigen Anwesenden, und das waren eine ganze Menge, waren die Nachbarn und Senioren, die durch Frau Tischbeins Tod so etwas wie eine Mutter verloren hatten.
Der Pastor hielt eine trostlose Rede, die Orgel spielte trostlose Kirchenlieder, und Silke, die einige Reihen vor mir saß, sah sich gelegentlich nach mir um und lächelte mir zu. Ein wenig gezwungen erwiderte ich ihren Blick. Ich halte zwar selbst nicht viel auf Etikette, aber dieses Verhalten schien mir doch ein wenig taktlos. Dann aber sah ich für einen kurzen Augenblick das Gesicht der Verstorbenen vor mir, und sie bedachte uns mit einem komplizenhaften Augenzwinkern. So kam es, dass mein heißester Flirt auf einer Trauerfeier stattfand.
Als ich Silke mein Beileid aussprach, sagte sie: "Übrigens, weißt du, dass du ab Montag mein Untermieter bist?"
Sie schien sich darauf zu freuen, und ich war ein wenig unschlüssig. Eine Weile hätte ich schon gerne mit ihr verbracht, aber lange würde ich bestimmt nicht mehr in dieser Stadt bleiben.
Zu Hause fiel dann die endgültige Entscheidung; Silke war kein Mädchen für eine Nacht, und ich war kein Mann fürs Leben. Ich packte meine Sachen und bestellte ein Taxi zum Bahnhof.

Rosebud.

Viel habe ich mir vorgenommen,
es ist mein Wille ungebrochen:
als Bauer auf das Feld gekommen,
bin ich als Bauer vorgekrochen.

Jetzt ist es wieder Zeit zu handeln:
ich stehe vor dem fünften Zug
und kann zum Springer mich verwandeln;
doch wäre dieser Zug auch klug?

Nehm ich das letzte Feld im Sturm,
so hat sich's endlich ausgebauert;
ich sehe aber auch den Turm,
der in der Ecke auf mich lauert.

Ist dieser Schritt auch mein Verderben,
ich gehe doch das Wagnis ein,
will lieber als ein Springer sterben
anstatt ein Bauer nur zu sein,

Der schon in seinen jungen Jahren
reglos verharrt statt zu entflammen,
weil ihn die drohenden Gefahren
zur Tatenlosigkeit verdammen.

Ich war nur Statist hier, weniger noch: ich war ein Zuschauer, der einige zaghafte Zwischenrufe von sich gab. Das Eintrittsgeld war bezahlt, die Vorstellung zu Ende und die Akteure abgetreten; um nicht im Theater eingeschlossen zu werden, musste ich gehen.

"Er spürt immer deutlicher, dass sein Versuch, rein zu bleiben inmitten einer lebensgierigen Umwelt, deren Herzlosigkeit und Korruption ihn abstoßen, kaum gelingen kann."
"Sie lesen Robert Jungk?" fragte mein Gegenüber etwas verwundert.
"Natürlich. Was sollte ich sonst tun?"
"Ich könnte beim Bahnfahren nicht lesen. Es macht mich nervös."
"Nervös?"
"Ja, es ist so hektisch. Ich gehe lieber spazieren."
"Ich ziehe die Bahn gerade der Ruhe wegen vor."
"Wie meinen Sie das?"
"Nun, wenn ich gehe, bewege ich mich über die Erde, und die Erde steht still. In der Bahn kann ich still sitzen, und die Erde bewegt sich unter mir."
"Sie haben kein Auto?"
"Noch nicht. Aber demnächst werde ich mir eines kaufen müssen; ich habe Schulden gemacht und kann mir das Bahnfahren nicht mehr leisten."
Ans Meer. Ich wusste noch nicht, wo ich aussteigen würde.
Nur eines war sicher: am Meer musste es sein.


II. Der Gang vor die Hunde

Ritter Hubert, so berichtet die Sage, hatte sich wieder zu einem Krieg überreden lassen und schickte seine Knechte in die Siedlung, um dort die notwendigen Steuern einzutreiben.
Die Knechte warfen das Los, um zu bestimmen, wer diesen Auftrag ausführen sollte, denn seit vielen Jahren war kein Steuereintreiber lebend zurückgekehrt.
Die Unglücklichen nahmen Abschied von ihren Freunden, trafen Verfügungen über ihr Vermögen und gingen hinab. Alle Burgherren der Umgebung waren mit dem ihren befreundet, und selbst wenn sie sich bei einem Bauern verdingt hätten, wären sie früher oder später von den Häschern gefunden worden; sie mussten also wohl oder übel ihren todbringenden Auftrag erfüllen.
Beim Schmied fingen sie an. Dessen Frau hatte ihm vor einigen Wochen einen kräftigen Jungen geboren, den die Knechte des Ritters sofort aus der Wiege rissen und die Begleichung der Steuerschuld verlangten.
"Herr, dieses Jahr war ein trockenes Jahr. Die Bauern haben nichts, und deshalb haben wir Handwerker auch nichts." - "Das wollen wir erst einmal sehen. Wenn Er seine Schulden nicht begleichen will, werden wir Seinem Sohn die Gliedmaßen abtrennen, eines nach dem anderen, bis Er es sich anders überlegt."
Durch den Aufschrei der Frau und das Weinen des Säuglings aus dem Mittagsschlafe aufgeschreckt, erschien nun der Zauberer in der Tür. Die Knechte begannen zu zittern, bemühten sich jedoch, sich nichts anmerken zu lassen und machten sich daran, dem Kleinen die Hände abzutrennen. Ihre Bajonette aber wandten sich gegen sie selbst und schlugen ihnen die Köpfe ab.
Der Bauer kniete vor Ritter Hubert nieder und verneigte sich, so dass sein Haupt den Boden berührte, bis er aufgefordert wurde, sich zu erheben.
"Er kommt, um Seine Steuerschuld zu begleichen?"
"Oh Herr, wir hatten ein schlechtes Jahr, und ich bitte Euch, die Schulden bis zur nächsten Ernte zu stunden. Dafür will ich Euch einen Dienst erweisen, der Euch von vielen Sorgen befreien wird."
"Ich höre."
"Nun, ich weiß, dass Ihr in Sorge seid, keine Steuerzahlungen mehr zu erhalten, da die Eintreiber durch die Macht des Zauberers von ihren eigenen Waffen getötet werden."
"Und weiter?"
"Ich habe den Zauberer lange beobachtet, und seine Macht ist nicht unbegrenzt. Eure Knechte könnten ihn mit meiner Hilfe gefangen nehmen."
"Und wie?"
"Nun Herr, er vermag es, durch seinen Blick jeden Gegenstand nach Belieben zu beherrschen. Sieht er aber nichts, so vermag er auch nichts zu bewegen. Wenn Eure Knechte ihn ablenken, würde ich ihm von hinten ein Tuch übers Haupt werfen, und er könnte ohne Aufhebens gefangen genommen werden."
"Das klingt vernünftig, mein Freund. Sollte Ihm Sein Vorhaben gelingen, so seien Ihm sämtliche Schulden erlassen."
Im Turm angekommen wurde der Zauberer in die kahle Zelle gestoßen, und die schwere Tür wurde hinter ihm für immer geschlossen. Er wusste, dass man ihn hier verhungern lassen würde, und er beschloss, nicht allein zu sterben.
Lange dauerte es, bis er sich von seinen Fesseln befreien konnte. Dann riss er sich das Tuch vom Gesicht und blickte hinauf zum vergitterten Fenster, einer winzigen Öffnung, die sich so weit über ihm befand, dass er nicht einmal den Himmel sehen konnte. Viel Licht erreichte ihn nicht von dort, aber es genügte ihm für das, was er vorhatte.
Genüsslich streifte er seinen Ring vom Finger und ließ ihn im Raume schweben. Langsam drehte er sich um sich selbst, dann etwas schneller und schneller und immer schneller...
Ritter Hubert vergnügte sich mit seinen Freunden, den anderen Rittern, die aus der Nachbarschaft angereist waren; morgen würde man in den Krieg ziehen, und so war heute - zumindest für einige von ihnen - die letzte Gelegenheit, einem Gelage in dieser trauten Runde beizuwohnen.
Einer der Ritter wollte Freund Hein gesehen haben, wie er am Fenster vorbei in Richtung Turm gegangen sei, und hielt dies für ein schlechtes Omen. Die anderen meinten, er habe nur zu tief in den Becher geschaut und schenkten ihm fleißig nach.
Was dann geschah, glich einem Erdbeben: der schwere Tisch rutschte unversehens an die Wand, die zum Turm hin lag, zerquetschte den Ritter Hubert, der am Kopfende saß, und zerbarst in tausend Stücke. Alles andere im Festsaal - Ritter, Geschirr, Stühle und Bilder - fiel ebenfalls auf die Wand, wo es zerbrach oder verbeulte.
Ritter Hugo war der erste, der sich vom Schock erholte und nach einem Ausweg suchte. Die Tür lag nun ganz oben links am anderen Ende des Raumes und war nicht mehr erreichbar. Das Fenster auf der rechten Seite war aber nur sieben Fuß von der Wand entfernt, und Ritter Hugo konnte es leicht erreichen, indem er sich auf den einzigen unversehrten Stuhl stellte. Der Saal lag ja zu ebener Erde, und er glaubte, sich durch den Sprung aus dem Fenster retten zu können. Die anderen hörten noch seinen Schrei, bevor er auf dem Turm zerschellte.
Die übrigen Ritter starben, nachdem ihnen die Ausweglosigkeit ihrer Situation bewusst geworden war, durch das eigene Schwert.
Die Zugbrücke ist seit jenen Tagen nicht mehr herauf gezogen worden, und auf ihrer rechten, zum Turm hin liegenden Seite wurde eine hohe Mauer errichtet. Je näher man der Burg kommt, desto dichter wird man an die Mauer gepresst bzw. gezogen. Man fängt an, sich mit Händen und Füßen abzustoßen, und irgendwann bemerkt man, dass man bereits auf der Mauer kriecht und beginnt nun, auf ihr zu gehen.
Vom Tor gelangt man auf einer Hängebrücke durch die Eingangshalle hinunter zur Tür des Festsaales, in dem sich die Tragödie seinerzeit abgespielt hatte. Der Rahmen der Tür ist durch ein stabiles Geländer ersetzt worden, hinter dem man noch immer auf die Möbel, Bilder, Rüstungen und Gerippe hinuntersehen kann, die dort in zwölf Meter Tiefe liegen. Am Geländer befinden sich auch zwei größere Gewichte, und daneben führt eine Leiter den Gang hinunter bis zum Turm - genau gesagt bis zur Tür der Zelle, in die der Zauberer gesperrt worden war. Wer stark genug ist, die Gewichte zu heben, der darf hinabsteigen; alle anderen würden, unten angekommen, den Rückweg nicht aus eigener Kraft bewältigen. Die Zelle selbst blieb seit der Gefangennahme des Zauberers verschlossen; sie ließ sich auch unter Zuhilfenahme modernster Techniken nicht öffnen, und nicht wenige Kranführer, Sprengmeister und Bohrexperten hatten hier schon hoch dotierte Wetten verloren.
Der Fremdenführer bekam die ersten Trinkgelder, die Kameras der Japaner surrten, die Amerikaner in ihren Straßenpyjamas wieselten wild durcheinander, und ich kannte jetzt die weltberühmte Sehenswürdigkeit meiner neuen Heimat.

In einem Wirtshaus genoss ich die lässige Atmosphäre des Ortes, las die Weisheiten des Besitzers, die selbiger seiner Kundschaft auf schmucken Holztafeln vermittelte ("Steter Tropfen höhlt den Geist"), besah mir die originellen Eingeborenen und angepassten Zuwanderer und blickte hinaus auf die Strandpromenade, auf der die Menschen nach der Mittagspause wieder an ihre Arbeit gingen.
Wer mit Antiquitäten handelt und nicht will, dass der Staub an seiner Kleidung auffällt, der tragt Grau. Wer mit Pflanzen handelt und nicht will, dass sich dies auf der Kleidung bemerkbar macht, trägt Grün. Und auch für die Kleidung derer, die mit geistigem Kot und historisch Erbrochenem handeln, gibt es eine Tarnfarbe.
Schwer bewaffnet marschierten sie durch die Straßen in ihren braunen Uniformen, ganz so, als seien sie staatlich bestellte Ordnungshüter, und grölten ihr "Ein Schöpfer, eine Schöpfungskrone". Die meisten Menschen wechselten den Bürgersteig oder machten einen großen Bogen um sie, so wie man einem Betrunkenen oder einem Intellektuellen aus dem Weg geht.
Vor dem Flüchtlingsheim blieben sie stehen und warfen Brandbomben. Das Gebäude stand sofort in Flammen, und wer das Haus verließ, wurde erschossen. Nach einer halben Stunde erschien die Polizei und sah dem Schauspiel aus sicherer Entfernung zu. Eingreifen konnte sie nicht, da kein Einsatzbefehl gegeben wurde, und so wurden nur einige Passanten verhaftet, die die Polizisten als feige oder gar faschistisch zu bezeichnen wagten.
Als das Gebäude in sich zusammenfiel und die letzten Bewohner getötet waren, erhielten die Beamten den Befehl zum Rückzug. Aus dem Fenster sah ich die siegreichen Faschisten vorbeimarschieren und hörte sie erneut ihre Hymne schreien. Auf der Tafel über dem Fenster stand: "Wo man singt, da lass dich ruhig nieder; böse Menschen kennen keine Lieder".

In der Nacht ließ ich mich durch die Straßen der Stadt treiben, die auch zu später Stunde noch recht belebt war. Das idyllische Städtchen, das milde Klima und die malerische Landschaft zogen auch in den Wintermonaten etliche Touristen an, die sich wie die Fliegen über den Ort verteilten; aber es gab vieles, was für diesen Schönheitsfehler entschuldigte. In den Gassen gab es Cafés, wo man bis in die frühen Morgenstunden draußen sitzen und Passanten beobachten konnte, und immer wieder lernte man Künstler kennen, die als solche oft über wenig Begabung verfügen konnten, aber immer sehr angenehme Gesprächspartner waren.
Einer stand mit seiner Staffelei direkt vor einem Straßencafé und warf gelegentlich einen genauen Blick auf die Szenerie, bevor er weitermalte. Auf der Leinwand sah ich eine Weltkugel, die neben einem als gleichberechtigtem Himmelskörper dargestellten menschlichen Gehirn im Raum schwebte. Diesem entsprangen drei große Gs in den Farben gelb, grün und schwarz, die miteinander zu einer braunen Masse zerflossen und sich wie eine Giftwolke über die sterbende Erde legten.
"Erkennen Sie es wieder?" wurde ich gefragt.
"Natürlich. Die drei bösartigsten Erfindungen, die jemals dem menschlichen Geist entsprungen sind: Grenzen, Geld und Götter. Die destruktiven Inventionen, mit denen die Menschheit die Erde zerstört hat."
Der Künstler ging einen Schritt zurück, um Abstand zu seinem Werk zu gewinnen, und betrachtete es aufmerksam. "Seltsam", sagte er dann mit zögernder Zustimmung, "so habe ich es noch gar nicht gesehen."

Irgendwann stand ich vor einem Gebäude im Stadtzentrum, das offensichtlich renoviert wurde. Die Haustür war unverschlossen: das Parterre bestand aus einem kleinen Zimmer mit Fenster zum Hof und einem zweiten, das sehr geräumig war und von dem man durch eine große Glasfront auf die Hauptgeschäftsstraße blickte. Man konnte noch das frische Weiß riechen, mit dem die Wände gerade gestrichen worden waren. Außer einer Stehleiter befand sich nichts in den Räumen, und so ging ich zurück zum Bahnhof, um meinen Schlafsack und die notwendigsten Dinge aus dem Schließfach zu holen.
Die Glaswand lag zum Osten hin, und so wurde ich schon sehr früh von den ersten warmen Sonnenstrahlen geweckt. Ich räkelte mich ein wenig und bemerkte plötzlich Kokyangwuti, die in der Ecke neben der Leiter kauerte und mir zulächelte. Sie war eine hochgewachsene Frau, jung wie ein Neugeborenes und alt wie das Leben selbst. Sie war ein Wesen von vollendeter Schönheit, Weisheit und Unnahbarkeit. Ich hätte sie berühren können, um herauszubekommen, ob sie eine materielle oder eine immaterielle Erscheinung war - da mir aber bewusst war, dass ich in beiden Fällen enttäuscht sein würde, ließ ich es bleiben.
"Gehen wir frühstücken", sagte ich, und wir gingen.

Einige Wochen lebten wir völlig isoliert in dem leer stehenden Gebäude, das wir nur selten zum Einkaufen oder Geld abholen verließen. Ich wusste, dass Kokyangwuti von den anderen nicht gesehen werden konnte, und da ich wenig Lust verspürte, in einer geschlossenen Anstalt zu landen, sprach ich nur mit ihr, wenn wir alleine waren.
"Fragst du dich nicht auch manchmal, warum niemand hierher kommt?" wollte ich wissen. "Es ist so ein schönes leeres weißes Zimmer, und irgendjemand muss es doch gehören, irgendjemand muss es doch gestrichen haben, irgendjemand muss doch hier wohnen."
Sie zuckte die Achseln.
"Weißt du, wenn ich ein so schönes Zimmer hätte", fuhr ich fort, "ich würde meinen Schlafsack hineinlegen, mich mit dir vor die Glasfront setzen und den ganzen Tag zu den unruhigen dummen Menschen hinaus schauen."
Sie nickte mit einem nachsichtigen Lächeln, als wollte sie sagen: das tun wir ja ohnehin schon.
Dann gingen wir doch einmal aus. Es fiel mir schwer, mich nicht mit ihr zu unterhalten, aber ich wollte mich ja nicht lächerlich machen. Wir besuchten ein Café und sahen einer Gruppe junger Frauen am Nebentisch zu. Sie hatten gerade ihre Barbiepuppen aus der Handtasche geholt, als die Bedienung kam.
"Ich nehme Whisky-Cola", sagte die erste Puppe. "Und ihr?"
"Das gleiche" , riefen die anderen im Chor.
"Also vier Whisky-Cola."
"Wisst ihr", wandte sich eine Puppe im grünen Ballkleid an die anderen, "ich habe gerade einen großen blonden Mann kennengelernt, das könnt ihr euch nicht vorstellen!"
“Wie groß genau?"
"Zwei oder drei Millionen."
Die anderen lachten.
"Nicht, dass ich auf das Geld aus wäre, schließlich verdiene ich selber genug. Aber Geld verleiht bekanntlich einen guten Charakter."
"Ich könnte niemals arbeiten", wandte eine andere ein. "Immer dies frühe Aufstehen, die Hektik im Beruf, die fehlende Freizeit - das wäre nichts für mich."
"Aber wenn du dein eigenes Geld verdienst, bist du unabhängig."
"Unabhängig bin ich auch, wenn ich pünktlich mein Haushaltsgeld bekomme und mein Mann außer Haus ist, also sieben Tage die Woche."
"Wo hast du eigentlich das tolle Kleid her?"
"Von meinem Mann."
Allgemeines Erstaunen.
"Er hat es von der letzten Geschäftsreise mitgebracht - vermutlich für seine Freundin, aber als ich es im Koffer fand, blieb ihm keine Wahl."
Die Mädchen sahen auf die Rolex, steckten die Puppen zurück in die Handtaschen, legten ein paar Scheine auf den Tisch, standen auf, zupften ihre Minis so zurecht, dass man die Höschen nicht mehr sehen konnte, und gingen. Ihre Mittagspause war um.
Als wir allein im Café saßen und auch die Bedienung außer Sichtweite war, begann ich wieder einmal, über Gott und die Welt zu philosophieren, bis ich bemerkte, dass Kokyangwuti die Stirn runzelte.
"Du hast recht", sagte ich beschämt wie ein ertappter Schuljunge, "ich rede zuviel. Es gibt so viele wertvolle Worte, aber sie gehen unter in der erdrückenden Masse ihrer überflüssigen Schwestern. Ich weiß, es gibt das goldene Wort, den Schrei, der die Welt von der Menschheit erlösen kann; aber wer würde schon eine Müllhalde nach einem Goldbarren absuchen?"
"Mit wem sprechen Sie?" fragte der Kellner verwundert.
"Ich bin Autokonversator", erwiderte ich und zahlte. Seither übe ich das Schweigen auf der Suche nach dem goldenen Schrei.

Oft schwebt ein Bild durch meinen Geist
von grünen Tannenzweigen,
die Elfen haben mich umkreist
und tanzen ihren Reigen.

Die Elfen sind so fein und zart,
sie sitzen auf den Blüten
und geben mir den guten Rat
vorm Menschen mich zu hüten.

Oft schwebt ein Bild durch meinen Geist
von einer Blumenwiese,
die schweigend ihren Schöpfer preist
so wie im Paradiese.

Das Gänseblümchen auf dem Feld,
es rät mir unter Tränen
mich nicht vor Menschen dieser Welt
in Sicherheit zu wähnen.

Oft schwebt ein Bild durch meinen Geist
von jenem Zaubergarten,
in den der Träumer gerne reist,
sein Ende zu erwarten.

Ein Spatz, recht wohlgenährt und prall,
pickt von den reifen Schlehen
und rät mir, mich in jedem Fall
vorm Menschen vorzusehen.

Oft schwebt ein Bild durch meinen Geist
und läutert meine Seele,
doch es entschwindet mir zumeist
sobald ich es erzähle.

Karls Eltern hatten sich niemals Zeit für ihr Kind genommen, nicht einmal für seinen Namen: man gab ihm einfach den des Vaters, und damit war die Sache erledigt. Tagsüber schickte man ihn in den Hof, um mit den anderen Kindern zu spielen. Karl wusste nicht, wie man spielt, und so verprügelte er die anderen.
Wenn er zu spät nach Hause kam, wurde er übers Knie gelegt. Wenn er nicht essen wollte, wurde er übers Knie gelegt. Wenn er nicht in die Schule wollte, wurde er übers Knie gelegt. Wenn seinem Vater danach war, wurde er übers Knie gelegt.
Nach dem Abendessen und den Schlägen ging er zu Bett.
Gesprochen wurde kaum.
Die Lehrer gingen ihm aus dem Weg. Die Schüler auch, wenn sie schnell genug waren. Sogar der Unterricht ging an ihm vorbei.
Karl Magnus war frei, aber niemand hatte ihn die Freiheit gelehrt. Nachts schlenderte er gerne durch die Straßen. Er trug stets einen Schlagring, ein Taschenmesser und Vaters Armeerevolver bei sich, falls ihm jemand zu nahe kommen sollte. Oder umgekehrt.
Scheiß Ausländer, dachte er. Wenn wir die Ausländer aus unserem Land hinauswerfen könnten, dann hätte ich eine eigene Wohnung. Wenn wir sie vertreiben könnten, würde ich mehr Sozialhilfe bekommen, vielleicht sogar eine Arbeit. Wenn wir sie vernichten könnten, hätte ich eine Perspektive.
Die Faust ballte sich in seiner Tasche. Wenn mir nur einer sagen würde, wie man am besten vorgeht. Wenn mir nur einer sagen würde, was ich tun kann. Wenn mir nur einer etwas sagen könnte...
Und so trottete er weiter durch die Häuserblocks auf der Suche nach Bevormundung.

Erwin Silbermann strahlte über das ganze Gesicht, als er den Gerichtssaal verließ. Gut, er war verurteilt worden, aber er fühlte sich trotzdem als Gewinner.
Zu Recht. Er war Vorsitzender eines Arbeitgeberverbandes und Chef eines großen Pharmakonzerns, und er verabscheute Tierversuche . Nicht dass er ein großer Tierfreund gewesen wäre - der Grund war einfach der, dass Tiere anders reagieren als Menschen. Und darum ließ er Menschenversuche durchführen.
Der fahrlässigen Tötung in achtundfünfzig Fällen überführt, wurde Silbermann zu einer Geldstrafe von zehn Tagessätzen und einer mehrmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Wenn das kein Sieg war!
Glücklich verließ er das Gebäude und versuchte, die Reporter abzuwimmeln.
Plötzlich stand Gustav Reimer vor ihm. Reimer schoss viermal.

Ein feiner Nieselregen ging auf den Park nieder, und Kokyangwuti hüllte sich gerade ein wenig fester in ihren Mantel, als ein junger Mann auf unsere Bank zukam. Er sah recht nervös aus und hatte diesen seltsam faszinierenden Gang, der intelligente Menschen mit Kontaktschwierigkeiten auszeichnet. Alle paar Sekunden ging ein Zucken durch seine linke Gesichtshälfte, bei der das Auge und der Mundwinkel schräg nach oben gezerrt wurden.
Er grüßte, setzte sich auf den freien Platz neben Kokyangwuti und übte sich in Gemeinplätzen. Sie würdigte ihn keines Blicks, und er sah schließlich verlegen zu Boden und sagte: "Tut mir leid, dass ich heute Morgen nicht mit dir gesprochen habe. Ich dachte mir, wenn ich damit aufhöre, würden sie mich vielleicht wieder gehen lassen."
Dann wandte er sich an mich: "Seid ihr zusammen gekommen? Ich bin Guiseppe."
Er reichte mir seine dürre Hand und fuhr fort: "Ich wohne dort hinten, in der Gleichschaltungsfabrik. Jeder, der mehr denkt, mehr hört oder mehr fühlt als die Gesellschaft für angebracht halt, wird dort repariert.
Es passt ihnen nicht, dass ich mich mit Kokyangwuti unterhalte. Sie können sie nicht sehen, und deshalb sagen sie, sie würde gar nicht existieren.
Dann sagen sie, ich sei nervös. Tatsächlich ist es so, dass ich es spüre, wenn irgendwo ein Mensch durch die Schuld eines anderen Menschen stirbt, und das verursacht einen stechenden Schmerz in meinem Gesicht.
Und dann sind da noch die Stimmen. Das heißt, eigentlich sind es keine Stimmen, und ich höre sie auch nicht mit den Ohren. Weißt du, wie sich Elefanten über zwanzig Kilometer verständigen können?"
"Sie trompeten."
"Das wäre nicht so weit zu hören. Sie bassen. Ich meine damit, sie geben durch das Vibrieren ihrer Bauchdecke einen Basston von sich, der von niemandem sonst gehört werden kann. Das haben sie schon vor Urzeiten so getan, aber herausgefunden hat man es erst vor wenigen Jahren.
So ähnlich muss es sich mit den Empfindungen des Menschen verhalten. Irgendein unbekanntes Organ in uns kann Signale senden, aufnehmen und verarbeiten, die von einem ganz anderen Teil der Erde kommen. Auf diese Weise erfahre ich von den Sorgen, vom Hunger und Elend von Milliarden Menschen. Ich kenne jedes Einzelschicksal auf dieser Welt, und der Gedanke macht mich krank, dass ich nicht einem von ihnen helfen kann."
"Und du bist der einzige, der über dieses sagenhafte Organ verfügt?"
"Der einzige sicher nicht. Aber es ist ein Organ, das verkümmert ist. Was nicht mehr benutzt wird, wird von der Natur abgeschafft. Als die ersten Lebewesen an Land gingen, hatten sie noch Kiemen. Sie gebrauchten sie nicht mehr, und so bildeten sie sich zurück, bis sie schließlich ganz verschwanden. Aber selbst gegen Ende dieses Evolutionsprozesses hat es immer wieder einige gegeben, die ihre kargen Überbleibsel noch anwenden konnten.
Der Mensch hat aufgehört, die Leiden anderer wahrzunehmen. Früher wollte er es nicht. Jetzt ist es zu spät."
Der Regen war heftiger geworden und prasselte in Fäden auf uns herunter.
Guiseppe zog sich die Kapuze seines Regencapes ins Gesicht und ging.
Kokyangwuti folgte ihm.

Siebenundsechzig Harlekine tanzten auf den grünen Straßen. Die Reisfelder standen in voller Blüte, und das Pink der Tarnfarben verschwand im morgendlichen Nebel. Die Fische hörten auf zu singen, und das Orchester flog davon. Überfüllte Bäuche zuckten wie in Geburtswehen, die Anerkennung nicht verdauen könnend. Das Feld der Hoffnung brandgerodet, um kultiviert zu werden.
Krächzende Vögel in neuen Tonlagen: Disharmonie der Apokalypse. Wir sinken nicht.
Sie sind laut. Lauter als die Sirenen, die jetzt ganz verstummt sind. Woodstock ist vorbei.

Jetzt, wo ich wieder allein war, beschäftigte ich mich auch wieder mit dem, was in der Welt verging. Der Papst propagierte die künstliche Befruchtung als gottgegebene Möglichkeit, eine unbefleckte Ehe zu führen. Wohnungen von Ausländern wurden nicht mehr gegen Feuer versichert. Biminische Truppen waren


Das Fragment 'Und das ganze Land kam in den Wald' muss um 6233 RT (1992 CE) entstanden sein. Geplant war ein Roman in drei Teilen:

I. 'Der Gang der Dinge'
Der anarchistische Erzähler bewegt sich orientierungslos durchs Leben. (Einen Absatz habe ich vergessen einzufügen: lange nachdem er die Arbeitslosenstatistik studiert hat, erinnert er sich daran, dass diese vom Vormonat stammt und ihn somit noch nicht erfasst.)

II. 'Der Gang vor die Hunde' (geklaut von Erich Kästners Fabians ursprünglichem Titel)
Der Erzähler ist gezwungen, Arbeit in einem Rüstungsbetrieb anzunehmen. Er fügt sich in sein Schicksal, ordnet sein Leben und mäßigt seine Ansichten.

III. 'Der Gang nach Canossa'
Der Erzähler arbeitet sich hoch und verwirft nach und nach seine Ideale.
Den Schluss sollte ein Absatz bilden, in dem er in den Aufsichtsrat des Rüstungsbetriebs gewählt werden soll, mit dem Gespräch zweier Funktionäre auf der Versammlung:
"Ich weiß nicht", sagt Dr Schubart und nippt von seinem Weinglas. "Er soll einmal Anarchist gewesen sein." - "Ist das alles?" fragt ihn sein Gegenüber. "Wenn ich daran denke, was einige von uns einmal gewesen sind..."
Die umstehenden Funktionäre brechen in schallendes Gelächter aus.


© 6233 RT (1992 CE) by Frank L. Ludwig