Wir Scharfmacher


Der Name unseres Senflebens stammt, wie sich so mancher vielleicht schon denken kann, aus dem Mittelalter. Zu dieser Zeit war es einer der Hauptumschlagplätze für exotische Gewürze in Europa, und natürlich blieb ein großer Teil der Ware im Ort, um die Gaumen in Herrschaftshäusern und Gasthöfen zu kitzeln.
Längst hat Senfleben seine historische Bedeutung verloren, die Tradition stark gewürzter Speisen hat sich jedoch erhalten, und nirgends auf der Welt ist der Pro-Kopf-Verbrauch an Gewürzen so hoch wie bei uns.
In der Gastwirtschaft „Zum Lagerhaus", das sich seit dem goldenen Mittelalter in der Hand der Familie Kaufmann befindet, werden, so wage ich zu behaupten, die schärfsten Gerichte der Welt serviert. Die Zutaten der teuflischen Saucen sind selbstverständlich streng geheim, und obwohl - gerade in Senfleben - die Zahl der Nachahmer sehr groß ist, bleibt die kaufmannsche Qualität unerreicht.
Wenn der alte Kaufmann etwas Neues ausprobiert, lädt er uns Stammgäste zu sich ein und fragt uns nach unserer Meinung. So saßen wir eines Nachmittags wieder im Gasthof und kosteten einen neuen Hirtensalat, der an Schärfe alle uns bekannten Gerichte in den Schatten stellen sollte.
Es war das erste Mal, dass ich Reinke mit feuchten Augen gesehen habe. Nachdem er seine Portion verzehrt hatte, schluckte er noch einmal mit leerem Mund und sagte: „Sehr gut. Da müssen sich sogar unsere abgehärteten Gaumen erst dran gewöhnen."
„So" - wollte Meyerbeer beginnen, musste allerdings feststellen, dass anstelle seiner sonoren Stimme lediglich heiße Luft aus seiner Kehle aufstieg.
Er räusperte sich, trank einen Schluck Bier und setzte erneut an: „So scharf ist es nun auch wieder nicht. Auf jeden Fall aber eine der vorzüglichsten Gewürzmischungen, die du jemals kreiert hast."
Ich schloss mich den beiden an. Dieser Hirtensalat war tatsächlich die Krönung der gesamten Speisekarte des Lagerhauses.
Dann trat ein Fremder ein, und wir verstummten schlagartig. In einer Kleinstadt wie der unseren gibt es keine unbekannten Gesichter, und wenn ein Fremder unsere familiäre Atmosphäre zu stören wagt, ist das so, als wenn sich zum Abendessen in der eigenen Wohnung ein ungebetener Gast gesellt.
Als wollte er uns verhöhnen, wünschte er einen Guten Tag, setzte sich und warf einen Blick auf die Speisekarte.
„Ein Chili und ein Pils, bitte", sagte er, als der alte Kaufmann die Bestellung aufnahm.
„Ich würde Ihnen unseren Bohnenauflauf empfehlen", erwiderte dieser höflich. „Sie müssen wissen, dass unsere Speisen äußerst scharf gewürzt sind."
„Das geht in Ordnung", war die lapidare Antwort. „Ich esse gerne scharf."
„Wie Sie wünschen."
Er hatte uns herausgefordert, und wir nahmen die Herausforderung an. Dem Grinsen Kaufmanns konnten wir entnehmen, dass das Chili noch stärker gewürzt war als üblich. Wir setzten unsere Unterhaltung mit gedämpfter Stimme fort, verstummten aber sofort wieder, als dem Fremden sein Teller an den Tisch gebracht wurde, und verfolgten aufmerksam sein Gesicht.
„Das soll ihm eine Lehre sein", sagte Reinke, und Kaufmann erwiderte: „Das wird es auch, ganz ohne Frage."
Es geschah aber nichts. Der Fremde hatte sein Chili verzehrt, wischte sich den Mund, trank einen Schluck und sah erneut in die Speisekarte.
„Könnte ich bitte noch einen Hirtensalat bekommen?"
„Jetzt will er's wissen", flüsterte Kaufmann und machte sich händereibend an die Zubereitung.
Erwartungsvoll beobachteten wir den Fremden, der tatsächlich rot anlief, sich aber ansonsten nicht das Geringste anmerken ließ.
„Wie du willst", murmelte der alte Kaufmann mehr zu sich selbst als zu uns und ging wieder in die Küche. Er kehrte mit einer überbackenen Tomate in einer verlockend aussehenden Sauce zurück.
„Ein neues Rezept", sagte er mit betonter Freundlichkeit, als er sie dem überraschten Fremden an den Tisch brachte. „Ich würde mich freuen, ihr Urteil darüber zu hören."
Der Fremde bedankte sich überschwänglich, schnitt ein Stück davon ab, führte es zum Mund, biss darauf und schluckte es herunter. Kurz nach dem zweiten Biss lief er puterrot an, sprang auf und lief zur Toilette.
„Wie hast du denn das gemacht?" fragte ich.
„Carolina Reaper“, erwiderte Kaufmann stolz. Nun muss ich erwähnen, dass Carolina Reaper das bei weitem schärfste aller Gewürze ist, und Kaufmann war sicher nicht sparsam damit umgegangen.
Nachdem wir dem Fremden seine Lektion erteilt hatten, war er für längere Zeit verschwunden, was Anlass zu allgemeiner Erheiterung gab, bis sich Meyerbaum auf die Toilette zurückzog.
Im nächsten Moment stand er wieder im Lokal. Er war leichenblass und musste um Atem ringen, bevor er sagte: „Seht euch das an!"
Wir folgten ihm und sahen den Fremden, dessen Hände sich krampfhaft an das Waschbecken krallten. Das Wasser lief immer noch und hatte wohl das meiste des Erbrochenen weggespült; was sich noch am Rand gehalten hatte, sah verdächtig nach Eingeweiden aus.

Wir haben ihn in Kaufmanns Garten verscharrt. Die Gerichte sind seitdem noch schärfer geworden.


© 6236 RT (1995 CE) by Frank L. Ludwig