Der Sohn des Ministers
"Wir, die Staatsanwaltschaft also, beantragten eine Jugendstrafe in Höhe von 12 Jahren, denn wir sahen es als erwiesen an, dass der Angeklagte am Abend des 4. Juli dieses Jahres das Opfer zunächst vergewaltigt und anschließend erdrosselt hat. Der Angeklagte machte mit dem Zeugen, einem Freund von der Universität, eine Ferienreise durch Deutschland. Die beiden übernachteten dabei stets in Jugendherbergen - gegen den Willen des Vaters des Angeklagten, der als Minister in Bonn um seinen Ruf fürchtete und ihnen mehrmals anbot, ihre Hotelrechnungen zu übernehmen.
Am Abend des 4. Juli kamen die beiden in unsere Stadt und gingen auch hier in die Jugendherberge, wo ihnen sofort ein besonders gut aussehendes Mädchen auffiel: das Opfer.
'Die leg ich heute Nacht', soll der Angeklagte gesagt haben. Anschließend hat er das Opfer angesprochen. Der Zeuge gibt an, das Gespräch nicht gehört zu haben, sagte aber aus, es habe mehrmals lächelnd den Kopf geschüttelt. Dem Angeklagten zufolge hat dies die Frage betroffen, ob es noch länger in der Stadt bleibe.
Später hat der Angeklagte geduscht und dabei nach eigener Aussage seine Armbanduhr, eine Rolex, auf das Waschbecken gelegt. Bei dieser Gelegenheit soll die Uhr gestohlen worden sein; Anzeige gegen Unbekannt wurde bereits erstattet.
Zu diesem Punkt konnte der Zeuge keine befriedigende Aussage machen - er konnte auch nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob der Angeklagte die Uhr am späteren Abend noch getragen hat.
Über das Opfer wurde an diesem Abend nicht mehr gesprochen; der Zeuge befürchtete, den Angeklagten kränken zu können. Als der Zeuge und der Angeklagte später die Betten bezogen, sahen sie durch das Fenster, dass das Opfer die Jugendherberge verließ und in der nächsten Straße verschwand. Daraufhin sei der Angeklagte mit der Bemerkung 'Ich muss mich beeilen' überstürzt aus der Herberge gelaufen.
Das war gegen 20 Uhr. Innerhalb der nächsten Stunde muss die Tat ausgeführt worden sein. Das Opfer wurde zunächst vergewaltigt und anschließend erwürgt. Dass die Vergewaltigung vor dem Tod stattgefunden hat, beweisen die gefundenen Spermaspuren. Außerdem deutet alles darauf hin, dass es einen längeren Kampf gegeben hat, bei dem auch die Uhr des Angeklagten verloren gegangen sein könnte.
Gegen vier Uhr morgens kehrte der Angeklagte in die Jugendherberge zurück; nach eigener Aussage hat er das Opfer eingeholt, und nachdem es ihm mitgeteilt hatte, dass es für den Abend schon verabredet sei, habe er einen Nachtspaziergang unternommen, von dem er erst frühmorgens zurückgekehrt sei.
Gegen 5 Uhr morgens wurde die Leiche des Opfers neben einer Brücke in einem Waldstück nahe der Jugendherberge gefunden, und der Angeklagte wurde wenig später als Tatverdächtiger festgenommen und gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt.
Wir sahen es als erwiesen an, dass der Angeklagte das Opfer zunächst bedrängt hat, es nach seiner Weigerung vergewaltigt und aus Angst vor den Folgen erdrosselt hat. Aus diesen Gründen plädierten wir auf schuldig und beantragten eine Jugendstrafe von 12 Jahren wegen Vergewaltigung und Totschlags.
Die Verteidigung plädierte auf nicht schuldig, da die Schuld des Angeklagten in keiner Weise erwiesen sei. Es sei sicherlich nichts Ungewöhnliches, dass ihr Mandant ein Mädchen anspricht, auch wenn er nicht gerade als Frauenheld bekannt sei. Dass er dem Opfer gefolgt sei und nach der Absage einen Spaziergang gemacht habe, sei durchaus glaubwürdig. Hierzu wurde der Zeuge befragt, der aussagte, dass ihr Mandant oft Nachtspaziergänge unternommen habe - 'besonders dann, wenn er deprimiert war'.
Das Verschwinden der Rolex an diesem Tag habe ebenfalls keinerlei Bedeutung. Durch das soziale Umfeld ihres Mandanten könne man ihm eine gewisse Leichtfertigkeit im Umgang mit Wertgegenständen unterstellen, zumal diese Uhr für ihn sicher keinen so großen Wert haben dürfte wie für einen Durchschnittsbürger. Insofern sei die Annahme, er habe die Uhr erst später verloren, völlig aus der Luft gegriffen.
Vielmehr sei davon auszugehen, dass das Opfer tatsächlich eine Verabredung mit einem unbekannten Mann hatte und zu dieser auch erschienen sei. Des Weiteren sei durchaus denkbar, dass jener Unbekannte auch der Täter sei.
Hierzu wurde eine weitere Zeugin gehört, die Mutter des Opfers. Sie sagte aus, dass sie am Abend des 3. Juli, am Tag vor dem Eintreffen des Angeklagten also, mit dem Opfer telefoniert habe. Dieses habe dabei erwähnt, am nächsten Abend eine Verabredung mit einem 'netten jungen Mann' zu haben.
Da die Beweislage also ’mehr als dürftig' sei, wurde von der Verteidigung gefordert, den Angeklagten freizusprechen.
Nachdem sich das Gericht zur Beratung zurückgezogen hatte, wurde das Urteil bekannt gegeben: Freispruch aus Mangel an Beweisen.
Es ist kaum zu glauben", sagt der Staatsanwalt und drückt seine Frau fester an sich, "dass an diesem idyllischen Platz ein so grausames Verbrechen stattgefunden hat."
Plötzlich sieht er im Gebüsch etwas reflektieren; er bückt sich, hebt eine Armbanduhr auf und lässt sie in den Bach fallen. Dann legt er den Arm wieder um seine Frau. "Ach", seufzt er, "es ist schon eine ungerechte Welt."
© 6232 RT
(1991 CE) by Frank L. Ludwig