Die Maschine


Sein Name tut nichts zur Sache. Er selbst hat auch nichts zur Sache getan, noch nicht. Montags bis freitags ging er bisher um sieben Uhr aus dem Haus, durch ein paar schmale Straßen über den Marktplatz, auf dem er stets einen geknebelten Mann sah, der in einem Holzkäfig steckte, Hände und Füße über dem Rücken zusammengebunden und durch eine Stange unter diesen im Käfig aufgehängt, von zwei Soldaten, die wie römische Legionäre uniformiert waren, bewacht, hinüber auf die Hauptstraße zum Rückschrittsamt, stempelte um halb acht und begann zu arbeiten, machte um viertel nach neun Frühstücks- und um halb eins Mittagspause, arbeitete weiter bis halb fünf (freitags bis zwei) und ging denselben Weg nach Hause.

Heute aber würde er nicht vorbeigehen. Nein, er würde sich hinter die Wachen schleichen (die ohnehin nur geradeaus blickten und nicht mitbekommen würden, was neben und hinter ihnen geschieht, ganz so, als trügen sie Scheuklappen) und den Mann im Käfig befreien. Also macht er sich bereits um halb sieben auf den Weg und geht - schneller als sonst, zügig, entschlossen - zum Marktplatz. Auf halber Strecke sieht er ein letztes Mal in die Aktentasche, um sich zu vergewissern, dass er die Säge und das Messer noch dabei hat; so als hätten die beiden sich selbst aus Angst vor eventueller Illegalität des Vorhabens aus dem Staub machen können.
Auf dem Marktplatz allerdings erwartet ihn eine Überraschung: der Mann und der Käfig sind verschwunden, und auch von den Soldaten ist nichts zu sehen.
Er schaut sich um, ob man vielleicht den Standort gewechselt hat, nimmt nervös die Aktentasche in die andere Hand, wird von anderen Berufstätigen überholt und beschließt am Ende, ganz normal weiterzugehen.
Dann fällt ihm ein, dass er eine halbe Stunde zu früh ist, und da er schon ein wenig Hunger hat, wird er in irgendeinem Café frühstücken.
Nun hat er zeitlebens zu Hause oder im Büro gefrühstückt, und so dauert es einige Zeit, bis er eine geeignete Lokalität findet. Dort genießt er den Ausblick auf den Fluss, ein Rundstück mit Johannisbeermarmelade (die er zwar weniger mag, aber er wagt nicht nach anderer zu fragen), eins mit Honig, ein Brot mit Käse und ein Kännchen Kaffee - nur nicht das Ei, das viel zu hart gekocht ist und bereits einige Stunden in warmem Wasser verbracht zu haben scheint.
Er bittet den Tischnachbarn um eine Zigarette (obwohl er bisher überzeugter Nichtraucher gewesen ist), für die er gerne bezahlen würde. Er muss sie nicht bezahlen, bedankt sich, ruft die Bedienung zum Kassieren und rundet den Betrag auf volle Mark auf.

„Na", fragt der Abschnittsleiter, als er um zwölf nach acht das Büro betritt, „wir haben wohl etwas verschlafen, wie?"
„Nun ja", antwortet er und sucht einen plausibel erscheinenden Grund, „der Bruder hatte gestern Geburtstag, und da ist es etwas später geworden..."
„Schon gut", erwidert der Abschnittsleiter mit einem Soziallächeln, „das kann jedem mal passieren."
Nun arbeitet er wieder wie an jedem anderen Tag. Er macht Häkchen, wenn er eine Angabe geprüft und für korrekt befunden hat, er kreuzt Zutreffendes an oder unterstreicht es, er bewilligt oder lehnt ab und unterschreibt auf der linken Linie am Ende des Blattes, aber die Gedanken kreisen noch immer um den Mann im Käfig. Plötzlich legt er den Stift hin, schluckt kurz und fragt, ob jemandem schon einmal der Mann im Käfig aufgefallen ist, der normalerweise auf dem Marktplatz steht.
Die anderen blicken von den Formularen auf und starren ihn entsetzt an, so als habe er ein Tabuthema angeschnitten - und das hat er wohl auch, denn niemand sonst hat je über den Mann im Käfig gesprochen.
„Nun ja", sagt der Abschnittsleiter zögernd, „sonst komme ich kaum über den Marktplatz, aber heute Morgen habe ich im Bürgeramt die Existenzberechtigung verlängern lassen, und da habe ich ihn auch gesehen."
„Mir ist er früher auch aufgefallen", meint die Kollegin, „aber seit etwa zwei Jahren scheint er verschwunden zu sein. Ich habe ihn kurz nach der Laufbahnprüfung das letzte Mal gesehen."
„Bis vor einer Woche habe ich ihn noch jeden Tag gesehen", widerspricht der Kollege.
Dann beugen sich alle über die Papierberge und arbeiten weiter.

Die Zeit ist vorbei, denkt er. Es gibt einfach keine mehr. Trotzdem, die Uhren gehen weiter, und so macht er um viertel nach neun (wie immer vor dem Abschnittsleiter und nach der Kollegin) eine Frühstückspause im dafür vorgesehenen Gesellschaftsraum im oberen Stockwerk, lässt die Brote heute allerdings unangerührt und trinkt lediglich vier Tassen Kaffee, bevor er zurückkehrt. Dann geht der Abschnittsleiter in die Pause, und die Kollegin seufzt, weil sie schon war und noch immer Kaffeedurst hat.
„Es ist noch welcher oben", erwidert er. „Soll ich Ihnen einen runterholen?" „Das wäre nett", antwortet sie, „aber ein Kaffee wäre mir jetzt noch lieber." Der Kollege lacht, und die Kollegin lacht selbst.
Er lacht auch. Sicherlich ließe sich auf dem Marktplatz irgendein Hinweis auf den Mann im Käfig finden.
Um zwei Uhr (es ist Freitag) geht er dann zum Marktplatz hin und sieht sich die bewusste Stelle genau an. Im Boden befindet sich ein großes schwarzes Loch, und er kniet sich hin, um die quadratische Öffnung genau zu betrachten. Dabei tritt ihm beinahe jemand auf die Hand, und erst jetzt bemerkt er, dass die anderen über das Loch hinweggehen, als existiere es gar nicht.
Zögernd blickt er in den Schacht, stellt fest, dass eine Treppe vorhanden ist und geht hinunter.
Nachdem er eine ganze Zeit die Stufen hinabgegangen ist und die Welt über ihm sich nur noch durch einen winzigen hellen Punkt an der Stelle zeigt, an der er die Treppe betreten hat, bemerkt er, dass sich überall neben den Stufen Türen befinden. So öffnet er eine und entdeckt hinter ihr eine Palmeninsel, einen sonnigen Strand, einen Liegestuhl und einen überdimensionalen Fernseher, alles eben, was ein Mensch zum glücklich sein braucht. Er tritt näher, stößt sich den Kopf an der Wand und muss feststellen, dass es sich um eine Zeichnung handelt. Auch hinter den anderen Türen verbergen sich nur Wandmalereien, und so beschließt er, zurückzugehen. Die Stufen über ihm verschwinden aber, sobald er die nächstniedrigere betreten hat, und so bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Treppe weiter hinunterzugehen.
Plötzlich klopft es an einer Tür, und ganz automatisch antwortet er mit „Herein!" Die Tür öffnet sich, und zwei Skelette gehen auf ihn zu, ein verstaubtes altes Buch, das offensichtlich seit Jahrtausenden nicht mehr aufgeschlagen worden ist, wie einen Schutzschild vor sich hertragend.
„Wir bringen Ihnen das ewige Leben", hauchen sie, während die Hände nach ihm greifen.
„Um Gottes willen", antwortet er, „mir waren schon diese achtunddreißig Jahre zu viel."
Damit schüttelt er die beiden gewaltsam ab und tritt sie zurück durch die Tür, die er sofort hinter ihnen zuwirft.
Noch hört er die Gerippe klappern, als die Eltern auf ihn zukommen, die er, seit sie gestorben sind, nicht mehr gesehen hat.
Er will sie freudig begrüßen, schreckt aber zurück, als er die vorwurfsvollen Gesichter sieht.
„Du hast keinen Bruder", sagt der Vater verbittert. „Glaubst du im Ernst, der Abschnittsleiter hätte dir das abgenommen?"
„Woher sollte er das wissen?"
„Du bist und bleibst ein Trottel", mischt sich die Mutter ein. „Erst letzte Woche hast du der Kollegin erzählt, dass du ein Einzelkind warst, und der Abschnittsleiter hat sich dabei bestimmt nicht die Ohren zugehalten."
„Na ja, so schlimm wird es wohl nicht sein..."
„So schlimm wird es wohl nicht sein!" wiederholen die Eltern spöttisch und gehen wieder nach oben.
Nachdem er zwei bis drei Stunden, so schätzt er, unter dem Marktplatz verbracht hat, ist die Treppe zu Ende, mit anderen Worten: sie ist verschwunden.
Nun überlegt er, ob es noch eine Möglichkeit des Ortswechsels für ihn gibt; es sind keine Türen mehr zu sehen, und die einzige Verbindung zur Außenwelt ist dieser quadratische Schacht.
Darum schließt er die Augen und sieht den Arbeitsplatz vor sich, öffnet sie wieder und steht im Büro.
„Ich dachte, Sie kommen überhaupt nicht wieder", sagt eine alte keifende Stimme. Es ist die Kollegin, aus der inzwischen eine grauhaarige Greisin geworden ist. „Fangen Sie am besten gleich an, es hat sich viel Arbeit bei Ihnen angehäuft."
Ein Blick auf den Kalender zeigt ihm, dass seit dem letzten Arbeitstag fast vierzig Jahre vergangen sind. Eigentlich müsste er längst pensioniert sein, ebenso wie die Kollegen und der Abschnittsleiter. Dann bemerkt er den missbilligenden Blick desselben, der - schon mehr als scheintot - am Schreibtisch arbeitet. Vielleicht ist er noch böse wegen der Ausrede mit dem Bruder, denkt er, setzt sich an den mit Formularen überfluteten Arbeitsplatz und beschließt, die Pensionierungsfrage zu einem günstigeren Zeitpunkt zu stellen. Er macht Häkchen, wenn er eine Angabe geprüft und für korrekt befunden hat, er kreuzt Zutreffendes an oder unterstreicht es, er bewilligt oder lehnt ab und unterschreibt auf der linken Linie am Ende des Blattes.
Bei einem Formular muss er feststellen, dass ein Durchschlag zuviel angefertigt wurde - das würde für ein heilloses Durcheinander in der EDV sorgen. Da dieses Formular jedoch nicht vernichtet werden darf, steckt er es unauffällig in die Jackentasche und arbeitet weiter.
Als er um viertel nach neun (wie immer vor dem Abschnittsleiter und nach der Kollegin) in die Pause geht, wirft er einen verstohlenen Blick auf den Spiegel. Kein Zweifel, er ist immer noch achtunddreißig, auch wenn die Existenzberechtigung ihn als Siebenundsiebzigjährigen ausweist.
Ach ja, die Existenzberechtigung: er hätte sie bereits dreizehn Mal verlängern lassen müssen, und so beschließt er, gleich um halb fünf (es ist Dienstag) das Bürgeramt aufzusuchen.
Auf halbem Weg fällt ihm ein, dass das Bürgeramt dienstags nur bis zwölf geöffnet ist, aber da steht er schon auf dem Marktplatz und denkt unwillkürlich an den Mann im Käfig, hält nach ihm Ausschau und entdeckt an der entsprechenden Stelle eine steil nach oben führende Wendeltreppe. Die anderen gehen durch sie hindurch und sehen sie nicht, er aber beginnt mit dem Aufstieg, und mit jedem Schritt verschwindet die Stufe unter ihm.
Auch an dieser Treppe befinden sich viele Türen; diese stehen jedoch offen und führen in verschieden große Räume, die allesamt weiß getüncht und vollkommen leer sind, Zimmer voll steriler Trostlosigkeit.
Gegen Ende der Treppe glaubt er, „Sympathy for the Devil" zu hören, und auf der letzten Stufe findet er dann die einzige geschlossene Tür.
Hinter dieser befindet sich ein Raum, der den anderen gleich ist - er ist nur wesentlich größer, in einer Ecke stehen ein altes Holzpferd und eine Gitarre, in einer anderen sitzt ein Hippie vor einem Kassettenrecorder und schreibt.
„Was machst du da?" fragt er, und der Hippie sieht überrascht auf, lächelt dann und sagt: „Endlich kommt hier auch mal jemand her. Ich bin gerade dabei, das Testament zu schreiben."
„Und warum ist sonst keiner hier?"
Der Blick des Langhaarigen verfinstert sich, nervös stochert er mit dem Stift in dem Loch der linken Hand herum und antwortet: „Sie sind alle nach unten gegangen. Erst die Heiligen, dann die Geister und am Schluss sogar der Vater."
„Und der Mann im Käfig - ist er auch nach unten gegangen?"
„Er war niemals hier", erwidert der Hippie entsetzt. „Er war es, der mich verraten hat. Woher kennst du ihn?"
„Na ja, ich hab ihn früher gelegentlich auf dem Marktplatz gesehen."
„Ich würde gerne auch einmal nach unten gehen", seufzt der Hippie und wischt sich eine Träne aus dem Auge, „aber mit dem Vorletzten verschwindet auch die Treppe. Der Letzte muss hier bleiben, und das bin ich."
Plötzlich leuchten die Augen hoffnungsvoll auf: „Aber jetzt, wo du hier bist..."
„Du brauchst dir keine Hoffnungen zu machen; die Treppe ist unter mir verschwunden."
„Ja, diese Treppe. Aber damit hast du mir eine Treppe gebaut."
Der Hippie scheint es ernst zu meinen, schickt sich zum Gehen an und wird ihn für alle Ewigkeiten hier zurücklassen.
Er versucht, das zu verhindern, will wie beim vorigen Mal die Augen schließen, was aber durch die gleißend helle Erscheinung des anderen unmöglich ist. Im letzten Augenblick fällt ihm das Formular in der Jackentasche ein. Hastig holt er es heraus, beugt sich darüber und sitzt endlich wieder am Schreibtisch im Büro.
Ob den anderen etwas aufgefallen ist?
Verstohlen blickt er zur Seite und bekommt einen Papierflieger an die Nase. Zwischen den anderen Schreibtischen balgen sich drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Der Kalender an der Wand verrät ihm, dass er vorgestern drei Jahre alt geworden ist.
„Stellen Sie den Stuhl auf den Tisch", verlangt der Größte von ihnen, der etwa sechs Jahre alt sein dürfte.
„Weshalb sollte ich?" erwidert er.
„Bin ich der Abschnittsleiter oder Sie?" fragt der Kleine, und so zuckt er nur mit den Schultern und stellt den Stuhl auf den Tisch.
„Und jetzt?"
„Jetzt heben Sie mich hoch", fordert der Kleine ihn auf und wird von ihm auf den Stuhl gehoben. Dort greift er nach der Lampe, holt sich Schwung und stößt sich vom Stuhl ab, der natürlich herunterfällt, um sich mit einem gewaltigen Schrei (und der Lampe) auf das Mädchen zu stürzen und es zu Boden zu reißen.
„Das ist gemein", mault die Kleine und verzerrt die sinnlichen Lippen zu einem vibrierenden Schmollmund. Einen Augenblick lang sieht es so aus, als würde sie losplärren, und fast wäre er aufgestanden und hätte sie vor dem Abschnittsleiter in Schutz genommen. Sekunden später aber springt sie auf, ruft lachend „Fangen Sie mich doch!" und läuft die Treppe hinauf. Das lässt sich der Vorgesetzte nicht zweimal sagen und hat sie wenig später eingeholt.
Während die drei im Gesellschaftsraum weiterspielen, geht er wieder an die Arbeit. Er macht Häkchen, wenn er eine Angabe geprüft und für korrekt befunden hat, er kreuzt Zutreffendes an oder unterstreicht es, er bewilligt oder lehnt ab und unterschreibt auf der linken Linie am Ende des Blattes. Die Kinder haben sich bald auch wieder gefangen und sitzen an den Schreibtischen.
Als er um viertel nach neun in die Frühstückspause geht (wie immer vor dem Abschnittsleiter und nach der Kollegin), findet er im Gesellschaftsraum eine Tüte Gummibärchen. Siedend heiß fällt ihm ein, dass die Kollegin heute Geburtstag hat - den vierten, wenn er richtig gerechnet hat. Er geht zurück, gratuliert und entschuldigt sich: „Ich habe den Geburtstag völlig vergessen. Es tut mir wahnsinnig leid; ich habe nicht einmal ein Geschenk für Sie..."
„Dann brauchen Sie mir auch nicht zu gratulieren", erwidert sie trotzig, schüttelt die Hand ab und konzentriert sich wieder auf die Formulare.

Um zwei Uhr (es ist wieder Freitag) beschließt er, ein wenig durch die Stadt zu schlendern. Hier sieht er Pärchen, die gerade erst das Laufen gelernt haben, Händchen haltend durch die Fußgängerzone gehen, Winzlinge hinter Ladentischen stehen oder als Bedienung mit kleinen Schürzen durch die Kaffeehäuser eilen und Sechsjährige, die mit wichtiger Miene in Luxuslimousinen vorbeifahren und laut hupen, wenn jemand es wagt, vor ihnen den Zebrastreifen zu überqueren.
Erwachsene bekommt er kaum zu Gesicht; einige werden von den Kindern in kleinen Karren vor sich her geschoben, andere tollen auf den Spielplätzen herum.
Ein paar herumalbernde Mädchen sehen einer Gruppe übermütiger Jungen hinterher, eines pfeift ihnen sogar nach.
In den Kaufhäusern helfen die Kinder den Jüngeren beim Treppensteigen, und auf der Straße machen sie Musik. Große Werbeplakate zeigen ihnen den Weg zum Glück der Eltern.
„Haste mal ne Mark?"
Entsetzt blickt er sich um. In einem Hauseingang liegt ein in Decken gehüllter Knirps von vielleicht vier Jahren, neben ihm eine leere Flasche Wodka.
Nervös kramt er ein paar Markstücke hervor, wirft sie in die Mütze und hat es eilig, weiterzukommen. Dann läuft ein schreiendes Mädchen an ihm vorbei, das Gesicht voller Narben und blauer Flecke, und verschwindet im nächsten Gebäude; er erinnert sich, dass dies die Adresse des Frauenhauses ist.
Er geht immer schneller, aber er sieht immer mehr von dem, was er nicht sehen will: eine Gruppe von Kindern, die einen einzelnen Jungen mit Schlagringen verprügeln, einen betrunkenen Knaben, der in Papierkörben nach essbaren Resten sucht.
„Na, Kleiner, hast du heute Abend schon was vor?"
Eine schwarzhaarige Schönheit sieht ihn herausfordernd an, zieht an einer Zigarettenspitze und stößt den Rauch mit einem Kussmund in die kalte Luft. Sie trägt ein durchsichtiges Oberteil, durch das man deutlich die kleinen Nippel erkennen kann, und einen Minirock, mit dem sie zwei lange bestrapste Beine präsentiert. Er schätzt sie auf höchstens fünf.
„Isch mach es besonders gerrn französisch", verspricht sie und streicht mit der Hand über die Stelle der Hose, die das beste Teil vor Umwelteinflüssen schützt.
„Danke, ich hab schon", sagt er schnell und flüchtet um die nächste Straßenecke.
„Hey, gib uns den Schokoriegel zurück!"
Ein kleiner Knirps mit dem bewussten Stück Schokolade rennt an ihm vorbei, verfolgt von drei oder vier Pimpfen in Militärkleidung und mit Maschinengewehren bewaffnet, die wesentlich größer sind als sie selbst. Als der Verfolgte nicht stehen bleibt, knien sie nieder und eröffnen das Feuer.
Der Flüchtige bleibt in einer riesigen Blutlache liegen, dermaßen zerfetzt, dass man kaum erkennen kann, dass es sich einmal um ein menschliches Wesen gehandelt hat. Mit ihm sterben drei weitere Kinder, die zufällig hier entlanggekommen sind.
Müßig zu erwähnen, dass von dem Schokoriegel nichts übrig geblieben ist.
„Kommen Sie", meint einer der Uniformierten, der ihm knapp bis zur Hüfte geht, und führt ihn vom Ort des Geschehens. „Das ist nichts für Erwachsene."
Was hat der kleine Soldat mit ihm vor? Das Gesicht unter dem Helm sieht harmlos aus, aber das Maschinengewehr verdrängt jeden Gedanken an Flucht. Vielleicht wird man ihn als unliebsamen Zeugen ebenfalls ausschalten oder, weil er keine Kinder hat, ins Erwachsenenheim stecken.
Es fällt ihm angesichts dieser Situation nicht schwer, die Augen zu schließen und sich den Arbeitsplatz im Rückschrittsamt vorzustellen.
„Guten Morgen", begrüßt ihn der Abschnittsleiter freudestrahlend, „na, der Urlaub scheint Ihnen ja wirklich gutgetan zu haben. Sie sehen richtig erholt aus!"
„Wo sind Sie denn gewesen?" erkundigt sich die Kollegin.
„Ich... nun ja, ich bin diesmal zu Hause geblieben. Balkonien, wie man so schön sagt."
„Eigentlich ist es ja auch schizophren", merkt der Kollege an, „jedes Jahr kommen Hunderttausende hierher, um diese Stadt zu besichtigen, und die Einheimischen selbst wollen woanders hin."
„Auf diese Weise haben die Touristen wenigstens ausreichend Platz", erwidert er und sorgt für allgemeines Gelächter.
„Und", fragt ihn der Abschnittsleiter, „haben Sie den Mann im Käfig gefunden?"
„Ich habe ihn noch nicht wieder einfangen können", antwortet er und begibt sich wie die anderen wieder an die Arbeit. Er macht Häkchen, wenn er eine Angabe geprüft und für korrekt befunden hat, er kreuzt Zutreffendes an oder unterstreicht es, er bewilligt oder lehnt ab und unterschreibt auf der linken Linie am Ende des Blattes.
Ich möchte dieses Leben umtauschen, denkt er. Aber er ist sich im Klaren darüber, dass die Garantie abgelaufen ist, und so geht er um viertel nach neun (wie immer vor dem Abschnittsleiter und nach der Kollegin) in die Frühstückspause.

Als er sich um halb fünf (es ist Montag) auf den Heimweg macht, wird er von einer großen Blondine angesprochen.
„Unnskyld, har du fyrstikker?"
Etwas irritiert sieht er die Fremde an, bemerkt aber nicht die Zigarette, die sie in der Hand hält, sondern nur den bittenden Blick. Er kramt ein wenig in der Hosentasche herum, holt ein paar Geldstücke heraus und drückt sie dem verwirrten Mädchen in die Hand.
Nein, es ist sicher nichts Eigenartiges, in dieser Stadt Fremden zu begegnen. Seltsam ist allerdings die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn in einer fremden Sprache angeredet hat.
Dann fällt ihm der Marktplatz ein, der ihn in die Abenteuer der letzten Tage gestürzt hat. - Der letzten Tage? - Na ja, jedenfalls in die Abenteuer, die ihm zuletzt widerfahren sind. Vielleicht war alles nur ein böser Albtraum, vielleicht sieht er auch schon Gespenster. So redet er sich ein, dass sich die Lage normalisiert hat und er die Begegnung mit dieser Fremden einfach überbewertet.
Trotzdem entschließt er sich, den Marktplatz zu meiden und den Umweg durch den Stadtpark zu nehmen.
Auf den Bänken sitzen alte Damen und junge Mütter, während die Kinder um die Kinderwagen herumtoben oder mit den Hunden spielen. Aus den Bäumen hört er das Zwitschern der Spatzen und Buchfinken und betrachtet die Bienen und Hummeln, die zwischen Gänseblümchen und roten Rosen umherschwirren. Einige junge Pärchen gehen händchenhaltend an ihm vorbei, und etwas neidisch sieht er ihnen hinterher. Im Springbrunnen amüsieren sich einige Halbwüchsige und nehmen beim gegenseitigen Bespritzen keine Rücksicht auf die Kaninchen, die sich zu dicht herangewagt haben und nun verschreckt den Rückzug antreten. Die Welt scheint wieder in Ordnung.
Seit er das letzte Mal hier gewesen ist, hat sich einiges verändert. Die Blumenbeete sind nicht mehr so gradlinig und öde wie früher, und der Rasen ist nicht mehr so kahl geschoren wie ein Skinhead, auch wenn der Weg zur wildwüchsigen Naturwelle noch ein recht langer sein wird. Auch die albernen Gartenzwerge hat er noch nie zuvor gesehen, die jetzt in Richtung Wald verschwinden. Er geht ihnen zögernd hinterher, bis sie ihn an eine Lichtung führen, auf der ein winziges Häuschen steht. Vor dem Eingang liegt ein hübsches Mädchen, das zu schlafen scheint. Die Zwerge drehen es auf den Bauch und schlagen mit einem Ast, den sie aus dem Park mitgebracht haben, auf den Rücken des Mädchens ein.
„Um Himmels willen", schreit er, „was macht ihr denn da?"
Überrascht sehen sie zu ihm auf, zucken zusammen und stellen alle Aktivitäten ein.
„Wir wollen die Kleine retten", erwidern sie.
„Retten?"
„Ja, sie ist mit einem Apfel vergiftet worden, und wir warten darauf, dass sie ihn wieder ausspuckt."
„Stimmt", bestätigt ein anderer, „sie ist von einer Hexe umgebracht worden, weil sie die Schönste ist und nicht diese Besenreiterin."
„Soll sie der Alten doch den Miss World - Titel abtreten", schlägt er vor. „Überlebenstechnisch wäre das sicher kein Fehler."
Mit diesem gut gemeinten Rat lässt er die Zwerge allein und macht sich auf den Rückweg.
Da er sich bei der Verfolgung der Zwerge jedoch den Weg nicht gemerkt hat, findet er auch den Rückweg nicht und verläuft sich. Vor einer verfallenen Mauer fließt ein breiter Bach, und während er eine Brücke sucht (denn er glaubt, er müsse ihn überqueren), kommt ein Mädchen mit einer roten Mütze vorbei, einen riesigen Präsentkorb in der Hand haltend.
„Hey du", quakt plötzlich eine Stimme aus dem Gras, „wirf mich an die Mauer!"
Das Mädchen blickt sich belustigt um und entdeckt einen hässlichen Frosch, der sie durchdringend ansieht.
„Was soll ich?"
„Du sollst mich an die Mauer werfen", wiederholt der Frosch garstig. „Dazu wirst du doch wohl kein Abitur brauchen."
Daraufhin nimmt sie die Amphibie in die Hand, wirft sie mit aller Kraft an die Mauer und geht singend weiter.
Resigniert rutscht der Frosch wieder ins Gras, schüttelt den Kopf und hüpft zum Bach zurück.
„Was soll den das?" fragt er den grünen Hüpfer.
„Ich bin ein verzauberter Prinz", antwortet der. „Jetzt warte ich darauf, dass eine Prinzessin vorbeikommt, denn nur sie kann mich von dem Fluch befreien."
Der Verwunschene seufzt und springt ins Wasser: „Aber der Adel scheint sich hier ziemlich rar gemacht zu haben."
Als der seltsame Frosch verschwunden ist, sieht er plötzlich eine Hängebrücke, die zwar etwas morsch ist, ihn aber trotzdem auf die andere Seite bringt.
Nach einiger Zeit entdeckt er zwischen den Büschen einen kleinen Turm, aus dem ein jaulender Gesang zu hören ist; es klingt etwa so, als versuche sich Marianne Rosenberg als Königin der Nacht.
„Ey, du Schlampe", kreischt ein altes Weib den Turm hinauf, „hör endlich mit dem Geheule auf. Du schreist noch den ganzen Wald zusammen! Lass lieber die verdammten Haare runter."
Daraufhin erscheint am Fenster das Gesicht eines bezaubernd schönen Mädchens, das die endlos langen Harre herunterwirft, an denen die Alte mit überraschender Gewandtheit hinaufklettert.
Als sie einige Stunden später zurückkehrt, fasst er sich ein Herz und fragt sie nach dem Mädchen.
„Sie ist so eine Art Adoptivkind", erklärt sie ihm. „Und für mich ist es auch ganz praktisch, seit vor ein paar Jahren der Schlüssel abgebrochen ist, denn das ständige Hochklettern an den Steinen geht in diesem Alter ziemlich auf die Pumpe."
„Hat sie nie zu fliehen versucht?"
„Die? - Nein!" lacht die Alte. „Sie wartet darauf, von einem Prinzen erlöst zu werden, der durch den Gesang anlockt wird."
Jetzt müssen beide lachen, und bevor sie sich verabschieden, verspricht er ihr, einmal zum Tee vorbeizukommen.
Er geht weiter; nach und nach werden die Bäume weniger, die Gegend wird eintöniger, bis er beinahe das Gefühl hat, sich in der Wüste zu befinden. Auf einem kleinen Berg trifft er dann einen Mann, der händeringend Selbstgespräche führt, und die Schweißperlen auf der hohen Stirn sehen aus wie Blutstropfen.
„Was machst du denn da?" fragt er den Mann.
„Ich warte auf das Königreich, das mir bereitet ist", antwortet dieser. „Ich bin politisch Verfolgter, und einer der Genossen hat mich verpfiffen. Gleich wird man mich festnehmen und zum Tode verurteilen. Aber drei Tage nach der Hinrichtung werde ich auferstehen, zum Direktor des Himmelreichs ernannt und in alle Ewigkeit ein unbeschwertes Leben führen. - Und worauf wartest du?"
„Na ja", erwidert er, „eigentlich nur darauf, dass das alles vorbei ist."
Auf einmal kommt dem Revolutionär eine Idee: „Hast du nicht Lust mitzukommen? Ich will bei der Hinrichtung noch jemanden bekehren!"
„Nein danke", erwidert er und hat das Gefühl, dass es höchste Zeit ist, die Augen zu schließen und ans Amt zu denken.
Diesmal wünscht er allerdings, er hätte die Augen nicht geschlossen: der Abschnittsleiter sitzt am Schreibtisch, die Kollegin steht auf der Treppe und der Kollege am Fenster, wobei nicht ersichtlich ist, ob er es öffnen oder schließen wollte. Alle drei sind mit schmerzverzerrten Gesichtern in der Bewegung erstarrt, und als er auf den Kollegen zugeht, fällt ihm dieser wie eine Wachspuppe zu Füßen.
Er versucht, die Polizei zu rufen, die Leitungen sind aber überlastet. Einen Augenblick lang denkt er daran, die Leichen außer Sichtweite zu schaffen, in den Gesellschaftsraum zum Beispiel, aber der Gedanke, die starren Körper zu berühren, widert ihn noch mehr an als der Anblick derselben, und so setzt er sich an den Schreibtisch und fängt an. Er macht Häkchen, wenn er eine Angabe geprüft und für korrekt befunden hat, er kreuzt Zutreffendes an oder unterstreicht es, er bewilligt oder lehnt ab, unterschreibt auf der linken Linie am Ende des Blattes und geht um viertel nach neun in die Frühstückspause.

Um halb fünf (es ist Donnerstag) macht er sich auf den Heimweg und beobachtet die Aufräumungsarbeiten auf der Straße. Militär, Feuerwehr und Polizei sind noch immer dabei, die Toten einzusammeln, die überall herumliegen, -sitzen oder -stehen. Sie werden auf große Anhänger geworfen und weggeschafft - niemand weiß wohin.
Immer wieder werden Passanten von den Uniformierten angestupst, wenn sie sich nicht bewegen; Leute, die vor Schaufenstern stehen, den Kirchturm bewundern, an der Ampel warten, in der Sonne liegen, auf Parkbänken sitzen oder in Kinderwagen - wer umfällt, hat verloren und wird aufgeladen.
Was die Betroffenen nicht mehr benötigen, wird gesammelt. So mancher Peterwagen quillt über vor lauter Handtaschen, Zigarettenschachteln, Sommerhüten, Bikinis, Kameras und winzigen Schuhen.
Auf den Bürgersteigen blüht inzwischen das Geschäft mit diesen Artikeln - hier gibt es Lippenstifte, Freundschaftsringe, Badehosen, Halsketten, Tangas und Teddybären so billig wie niemals vorher. Ein Schwarzmarkt im wahrsten Sinne des Wortes.
Er geht weiter und beobachtet, wie auch die fetten Tauben, die Ratten der Marktplätze, eingesammelt werden, zusammen mit Hunden, Säuglingen und Katzen.
Hinter sich hört er schwere Schritte, scheppernd, wie die eines Ritters etwa, und er dreht sich bedächtig um (denn erschrecken kann ihn nichts mehr) und erkennt die zwei Soldaten, die damals den Mann im Käfig bewacht hatten und die ihm jetzt in größerem Abstand folgen.
Nein, er hat keine Angst vor ihnen. Er bleibt stehen, und etwas verunsichert halten auch die beiden Soldaten an. Sie rufen sich etwas auf Lateinisch zu, und er ärgert sich, dass er in der Schule nicht besser aufgepasst hat. Dann gehen sie in gemächlichem Gleichschritt auf ihn zu und nehmen ihn in die Mitte.
Blitzschnell zieht der eine das Schwert und sticht zu. Blutüberströmt fällt er zu Boden, bemerkt noch die zufriedenen Gesichter der Soldaten und verliert die Besinnung.
Er weiß nicht, wie lange er so dagelegen hat. Benommen steht er auf und sieht, wie sich die Schaulustigen um den Körper scharen, der eben noch ihm gehörte, und die Fragen der Polizisten nicht beantworten können; nein, niemand hat den Täter gesehen, keiner weiß etwas über die Mordwaffe.

Hinter sich entdeckt er den so lange verschwundenen Mann im Käfig, wie früher von den zwei Soldaten bewacht, die stur geradeaus blicken, als sei nichts geschehen. Er schleicht sich an ihnen vorbei, öffnet die Aktentasche und sägt das Holzgitter durch. Dann schneidet er den Mann los und nimmt ihm den Knebel aus dem Mund.
Der Befreite beginnt zu röcheln und greift sich ans Herz; die Soldaten haben nichts bemerkt.
„Um Himmels willen", sorgt er sich um den Mann, den er nach langer Suche nun doch noch gefunden hat und stellt ihm sofort danach, als könne es die letzte Gelegenheit sein, die Frage, die ihn damals zur Suche veranlasst hatte: „Wer sind Sie?"

„Ich..." - der Mann holt tief Luft und greift sich nochmals ans Herz - „ich war die Menschlichkeit."


© 6232 RT (1991 CE) by Frank L. Ludwig