Ein Tod des Herrn Leichtfuß


Noch bevor seine Finger sie berührten, wusste er, dass sie der Tod war. Es gab nicht den geringsten Zweifel daran, und er wusste, dass seine Entscheidung richtig war. Er konnte nicht anders.
Lange starrte er sie an: wie einladend sie vor ihm lag, verlockend, bedrohlich, anziehend, abstoßend; schön in ihrer Abscheulichkeit, nichtssagend in ihrem Versprechen.
Es war Zeit zum Aufbruch. Simon Leichtfuß braucht nicht viel: seine Sachen waren schnell gepackt, und beinahe hatte er das Gefühl, dass schon dies Wenige zu viel war.
Zeit seines Lebens hatte ihn nichts mehr abgeschreckt als das Unbewegliche: die Menschen, die nur ein Leben hatten oder zwei, an einem Ort lebten oder zwei, einen Beruf ausübten oder zwei, eine Ehe führten oder zwei, ein Kind in die Welt setzten oder zwei und einen Namen trugen oder zwei.
Er versuchte sich an all seine Leben zu erinnern, und obwohl es nach seinem Geschmack viel zu wenige waren, fiel es ihm erstaunlich schwer, sie alle wiederzufinden und zu ordnen. Da war die Kindheit und Jugend in Köln: Fußball im Hinterhof, Petting am Rhein, Gitarrespielen in der Band. Dann das abgebrochene Studium in München: edle Bauwerke von abweisender Wärme, asoziale Biergärten, der unerträgliche Münchner Snöbel. Danach arbeitslos in Galway: Kneipen- und Straßenmusik, Familienleben unter den Einwanderern, Flirts und Joints. Anschließend Kellner in Rimini: drückende Hitze, Wespen, Sandstrand, Adria und eine unvergessliche Nacht mit der Algenblütenkonigin. Dann wieder Hoteldiener in Amsterdam: große wilde Frauen, Grachten, Space Cakes und scharenweise Amerikaner. Schließlich Geliebter in Wien: Tod, Kaffee, Heuriger, enge Gassen und Tauben.
Er liebte diesen steten Wechsel, er fühlte sich überall als ein anderer Mensch - und es ist anzunehmen, dass ein jeder Wechsel des Ortes tatsächlich auch einen Wechsel, wenigstens aber eine Veränderung, vielleicht sogar Weiterentwicklung seiner selbst mit sich brachte. Aber jede Stadt, die er sich mit all ihren Schatten und Sonnen zur vorübergehenden Heimat machte, war von dem hauchdünnen, kaum sichtbaren Schleier jener Melancholie, die ihn sein Leben lang begleiten sollte, verhängt. Der unauflösliche Zwiespalt zwischen dem reisenden Leben und dem ausgeprägten Wunsch, Kinder groß werden zu sehen, von ihrer Geburt bis zum Erwachsenwerden für sie da zu sein, ihnen zur Seite zu stehen, sie zu lieben, wurde ihm immer klarer. Zunächst hielt er trotzdem am bewährten Lebens-Wandel fest, bis sich das Schicksal zu Konzessionen bereit fand: es schickte ihm die Frau in den Weg, auf deren Existenz er nie zu hoffen gewagt hatte, die Frau, die seinen idealisierten Vorstellungen vollendeter Weiblichkeit bis ins kleinste Detail entsprach, und diese Frau griff zu.
Er hatte Freunde in Hamburg besucht und ging eines Morgens in den Supermarkt, um ein paar Kleinigkeiten zu besorgen. (Ausgerechnet im Supermarkt, dachte er später, wo sich der Statistik nach die meisten Paare kennenlernen.) Er war schon auf dem Weg zur Kasse, als er die Anwesenheit einer Frau bemerkte, deren Erscheinung ihm beinahe einen Herzschlag versetzte. Abrupt blieb er vor dem Parfumregal stehen und nahm eine der Flaschen in seine zitternde Rechte. Sein Puls raste, als er umständlich den Verschluss abschraubte und prüfend an dem Fläschchen roch, während er seine Traumfrau verstohlen aus den Augenwinkeln betrachtete. Sie war dunkelhäutig, vermutlich Inderin, einen Kopf größer als er und sehr schlank. Ein kurzer Rock gab den Blick auf ihre perfekten endlosen Beine frei, die schließlich doch in einem breiten Becken zusammentrafen. Ihrer Wespentaille und dem flachen Bauch folgten fast ebenso flache Brüste. Ihr Hals war ausgesprochen lang, und ihr Gesicht, von langen schwarzen Locken umflossen, war von einer Schönheit, die er auf dieser Erde nicht für möglich gehalten hatte. Ihre großen schwarzen Augen strahlen eine ungeheure Ruhe und Sanftmut aus, und sie zeugten von Intelligenz und Selbstbewusstsein. Ihre mystische Gestalt war von einer Aura der Unnahbarkeit umgeben, und niemand würde es wagen, diese Bannmeile des Übernatürlichen zu missachten.
Der Versuch, die Parfumflasche zu schließen, misslang: da er seine Augen nicht von ihren zarten Armen und den langen schlanken Händen abwenden konnte, mit denen sie das Klopapier aus dem Regal zog und in den Einkaufswagen legte, verfehlte der Verschluss zum wiederholten Male die Öffnung des Fläschchens.
Auch sie schien ihn inzwischen aus den Augenwinkeln zu beobachten, und er sah, wie sich ihre sanften Lippen in ein amüsiertes Lächeln wandelten. Ob es ein freundliches oder verächtliches Lächeln war, konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht sagen: plötzlich jedoch trafen sich ihre Augen, und sein Lächeln war gezwungen (zu unerwartet wurde er mit ihrem Blick konfrontiert), ihres aber war freundlich.
Dann stellte sie sich an der Kasse an, und er trat hinter sie. Nervös drückte er die Zehen gegen seine Schuhsohlen und presste seine Zunge abwechselnd gegen Zähne und Gaumen, während er seine Augen an ihrem Körper auf- und abgleiten ließ. Ihre wundervollen Beine, ihr kleiner runder Hintern, ihr bezaubernder Rücken - wie eine Garbe, dachte er plötzlich. Ja, ihr Rücken hat die Form einer eng geschnürten Garbe, wie sie im Herbst auf den Feldern steht. Er betete, sie möge sich noch einmal nach ihm umdrehen; er betete, sie möge ihn nicht mehr ansehen. Er wusste nicht, was er wollte - wenn nur diese Tortur, diese unerträgliche Spannung endlich gelöst wurde.
Sie hatte bezahlt, packte die Sachen in ihren Einkaufskorb und wandte sich im Gehen noch einmal um: "Wenn du mehr sehen willst, dann sei um acht im Alsterpavillon."
Die zweite Konzession machte das Schicksal noch am selben Tag: seine Freundin aus Wien rief an und teilte ihm mit, dass einer der wichtigsten Verlage - nachdem er, von etlichen Fehlschlägen entmutigt, schon nicht mehr an seine Berufung zum Schriftsteller glaubte - seinen Roman "Die Sesshaften", eine bösartige Satire auf die geografisch, geistig und moralisch unbewegliche Gesellschaft, angenommen hatte.
Beim abendlichen Rendezvous stellte sich heraus, dass es sich bei der Angebeteten um eine bedeutende Filmregisseurin handelte, deren Name ihm durchaus geläufig war. Als sie drei Monate später heirateten und ihre Villa an der Elbchaussee kauften, war auch er bereits Gegenstand des öffentlichen Interesses, und seine Bücher führten zwar selten die Bestsellerlisten an, sein Name sollte jedoch fast zwanzig Jahre lang auf allen von ihnen zu finden sein.
Ein halbes Jahr später kam das erste Kind zur Welt, ein Jahr darauf das zweite. Simon Leichtfuß ging in der Liebe zu ihnen vollkommen auf, betreute sie, während die Mutter im Studio arbeitete, und schrieb in den Abendstunden, wenn sie zu Bett gegangen waren. Er verbot ihnen nur, was sie oder andere gefährdete; er sagte ihnen seine Meinung und forderte sie auf, sich ihre eigene zu bilden und andere zu tolerieren; er war ihnen Spielkamerad und Ratgeber, und es gelang ihm, Tochter und Sohn zu freiheitlich denkenden, selbständigen und liebevollen Menschen heranwachsen zu sehen.
Nun waren sie erwachsen: Carina wollte Lehrerin werden und bestand darauf, ihr Studium selbst zu finanzieren. Wenn sie schon weiter im Haus wohnen bleiben konnte, so wollte sie wenigstens für ihre sonstigen Ausgaben arbeiten, wie alle anderen es auch müssten. Und so stand sie Abend für Abend hinterm Tresen und schenkte Biere aus. Heinrich hatte seine Ausbildung zum Kindergärtner (den Begriff "Erzieher" mied er wie den Teufel) abgeschlossen, eine Stelle gefunden und eine eigene Wohnung bezogen.
Leise öffnete Simon Leichtfuß die Tür zu Carinas Zimmer und sah, dass sie nicht allein war. Er schmunzelte und widerstand dem Wunsch, ihr noch einmal durchs Haar zu streichen, ihr noch einmal die Lippen auf die Stirn zu drücken: zu unangenehm wäre die Situation, wenn einer der beiden aufwachen würde.
Dann ging er ins Schlafzimmer. Verzaubert beobachtete er den Schlaf seiner wundervollen Frau: wie sich die Flügel ihrer zierlichen Nase blähten und wieder zusammenfielen, wie sich unter ihrem regelmäßigem Atem die winzigen Brüste hoben und senkten, und so leise er konnte, trat er an das Lager der Göttin heran und strich ihr sanft über den Arm.
Ich liebe dich, flüsterte er zärtlich, um sich sogleich zu korrigieren: Nein, ich liebe dich nicht. Ich bete dich an!
Und flüchtig, voller Angst, sie möge erwachen, fuhr er mit der Hand durch ihr volles Haar und küsste flüchtig ihre rosige Wange, sich mit ihrer atemberaubenden Schönheit innig verbunden fühlend - so flüchtig, so innig wie er noch niemals geküsst hatte.
Bevor er die Tür hinter sich schloss, verabschiedete er sich mit einem schwermütigen Blick von der Frau, der er und die ihm zwanzig Jahre des eigenen Lebens geschenkt hatte; wundervolle Jahre, die er nicht hätte missen wollen.
Er setzte sich wieder in sein Arbeitszimmer, um die letzte Zigarette zu rauchen, und ein letztes Mal blätterte er in seinem letzten Buch: "Der Aufbruch". In dieser Nacht hatte er das Manuskript fertiggestellt und fein säuberlich auf den Tisch gelegt. Nach der Zigarette nahm er seine Reisetasche und ging - wohin, wusste er noch nicht. Zum Bahnhof vielleicht oder zum Flughafen.
Als er am nächsten Morgen vermisst wurde, ließen nur das Manuskript und die Tarotkarte auf dem Tisch ahnen, was geschehen war.


© 6236 RT (1995 CE) by Frank L. Ludwig