„Ich denke, wir können ihn gut gebrauchen“, sagte der eine.
„Warten wir erstmal, bis er aufwacht“, erwiderte ein anderer.
Konzelmann schlug die Augen auf und fand sich in einem überdimensionalen Konferenzzimmer wieder; die Länge der Wände schätzte er auf jeweils mehrere Kilometer. Als er sich an das grelle Licht gewöhnt hatte, bemerkte er zunächst die sterile Einrichtung. Dann fielen ihm die seltsamen Wesen auf, die sich über ihn unterhielten. Es waren riesige einäugige Schlangen mit rechteckigen Köpfen. Ihre Pupillen waren ebenfalls rechteckig und bedeckten fast das ganze Gesicht, nur auf der rechten Seite blieb ein schmaler Streifen, auf dem Nase und Mund Platz hatten. Das einzige menschliche Wesen in diesem Raum war ein Kellner, der mit einem Tablett voller Ordner herumlief.
„Einmal Stasi-Akte mit Styropor, der Herr!“ - „Eine Flick-Liste mit Konfetti.“ - „Ein Bericht des Datenschutzbeauftragten über den Verfassungsschutz, geschnetzelt und flambiert. Wünsche guten Appetit!“
Der Kellner verschwand, und Konzelmann beobachtete die zyklopaden Schlangen fasziniert beim Verzehr ihres eigenartigen Menüs. Erst jetzt fiel ihm auch die seltsame Form ihrer Körper auf: ihr Leib stellte jeweils eine Unterschrift dar. Er erkannte die seines Direktors, zweier Minister, mehrerer Richter, des Kanzlers und einiger Industrieller.
„Seht mal, er ist aufgewacht“, rief einer plötzlich. Im nächsten Moment richteten sich alle Augen auf Konzelmann.
„Brauchen Sie Geld?“, fragte einer.
„Ja natürlich“, erwiderte Konzelmann, „aber nur Münzen.“
Die Schlangen wechselten einige verständnislose Blicke und fragten weiter: „Haben Sie Weitblick?“
„Ja, aber ich kann nicht fernsehen.“
„Können Sie schreiben?“
„Ja, aber nicht meinen Namen.“
„Haben Sie Skrupel?“
„Ja.“
„Nicht mehr lange“, sagte einer und hielt ihm ein Bündel Banknoten und einen Vertrag unter die Nase. „Ich denke, Sie sind unser Mann. Wenn Sie bitte hier unterschreiben würden...“
Geld. Papiergeld. Vertrag. Papier. Unterschrift. Händezittern. Bildschirme, überall Bildschirme. Flimmern. Verschwommen, alles verschwommen. Weg! So schnell wie möglich!
Konzelmann sprang auf, riss seinen Stuhl um und lief zur Tür. Hinter dieser entdeckte er einen bereitstehenden Lift, in den er flüchtete. Die Leuchtanzeige verriet ihm, dass er sich auf der 665. Etage befand. An der Rückwand des Aufzugs befanden sich sechshundertsechsundsechzig Knöpfe, die die Stockwerke 1 bis 666 anzeigten. Da für das Erdgeschoss keiner vorgesehen war, drückte er die 1.
Im 664. Stock hielt der Fahrstuhl, auf den zwei Schlangen warteten, dann aber zurücktraten. „Tut uns leid“, sagten sie zu Konzelmann, „aber wir wollen nach oben.“
Auch im 663. Stock hielt der Lift, ohne dass jemand zustieg.
„Sieh mal, da fährt einer freiwillig nach unten“, glaubte er zu hören.
Bemerkungen dieser Art fielen auf jedem Stockwerk, und niemand leistete ihm auf dem Weg nach unten aus freien Stücken Gesellschaft. Gelegentlich wurde eine Schlange von ihren Kollegen mit Gewalt in den Fahrstuhl gebracht und hatte nichts Dringenderes zu tun als bei nächster Gelegenheit wieder auszusteigen.
Auf der 398. Etage begegneten ihm die ersten Menschen, und je tiefer er kam, desto mehr davon bekam er zu Gesicht; aber auch von ihnen wollte keiner mit ihm hinunterfahren.
Als er nach Stunden im 1. Geschoss ankam, atmete er auf. Am Fahrstuhl standen etliche Menschen, zwischen denen nur sehr wenige Schlangen warteten.
Er stieg erleichtert aus, um den Ausgang zu suchen. Die Menschen wichen ängstlich zur Seite und warfen ihm hasserfüllte Blicke nach, einige spuckten sogar vor ihm aus. Verunsichert sah Konzelmann an sich herunter und stellte fest, dass er eine Schlange war.
„Nein“, schrie er, „ich bin keiner von ihnen. Glaubt mir doch, ich bin genauso ein Mensch wie ihr!“
„Ruhig, ganz ruhig bleiben“, hörte er eine Stimme sagen. „Es ist ja alles gut.“ Die Schwester streichelt besänftigend seinen Arm. „Es ist doch alles nur ein Traum gewesen.“
Konzelmann entspannt sich, richtet sich langsam auf und lässt seinen Blick durch das Krankenzimmer schweifen; ein Tisch mit Zeitungen, ein kleines Bücherregal, ein Fernseher...
Seine Augenlider begannen zu zucken, seine Finger krallten sich in den Bettbezug, und zum ersten Mal verfluchte er seine Privatversicherung. „Nein“, flüsterte er, „bitte nicht.“
„Kommen Sie mit“, sagte die Schwester. „Der Arzt möchte Sie sehen.“
Er stand auf, schlüpfte in die Pantoffeln und folgte ihr.
In seinem Arbeitszimmer wartet einer der Ärzte auf ihn, die man sich als Großvater gewünscht hätte: grauhaarig, ausgeglichen, geduldig und aufmerksam zuhörend. Nur selten unterbricht er Konzelmann bei der Schilderung seiner Probleme durch eine Frage, die zunächst nebensächlich erscheint, deren Antwort den Patienten jedoch mehr überrascht als den Arzt. So würde er eine Hotelrechnung in Fünfmarkstücken begleichen, auch wenn er Schecks und Kreditkarten dabei hätte. Einen Lotteriegewinn würde er ablehnen, wenn er dafür eine Quittung unterschreiben müsste. Das erste, worum er sich nach seiner Entlassung kümmern wird, ist die Verschrottung seines Fernsehers.
„Es ist seltsam“, stellt der Arzt am Ende des Gesprächs fest, „wie sich bei einer zunehmend technisierten Umwelt auch die Zivilisationskrankheiten häufen. Immer wieder kommen Menschen mit einer Krankheit zu uns, die es vorher nie gegeben hat. Und Sie“, er kann sich eines Schmunzelns nicht erwehren, „Sie sind einer dieser Fälle.“
„Und was fehlt mir genau?“
„Sie haben eine Allergie gegen Papier, Unterschriften und Bildschirme. Und deshalb werden Sie sich nach einem anderen Beruf umsehen müssen.“
Er nahm den Telefonhörer ab. „Schwester“, sagte er, „bitte räumen Sie den Fernseher und alle Bücher und Zeitschriften aus Konzelmanns Zimmer.“
Dann verabschiedete er sich vom Patienten, dessen Blick auf den gelben Schein fiel.
„Sagen Sie“, fragte Konzelmann, „was tragen Sie eigentlich auf dem Krankenschein ein?!
„Konzelmanns Allergie.“
Drei Tage waren wir jetzt schon mit der Surprise unterwegs, um unsere Delfine zu beobachten. Wir hatten uns mit jedem von ihnen angefreundet und ihnen Namen gegeben. Da war zum Beispiel Buddy, der neugierigste von ihnen, der als erster Kontakt zu uns aufgenommen hatte, Nelly, die ganz offensichtlich ein Auge auf Bert Gill, den Leiter unserer Forschungsgruppe, geworfen hatte, oder Shy Guy, der uns zunächst sehr distanziert gegenüberschwamm und versuchte, die anderen von uns fernzuhalten. Nur sehr langsam fasste er Vertrauen zu uns, als er sich aber davon überzeugt hatte, dass wir uns nur mit delfinösen Verhaltensweisen beschäftigen wollten, gab er sich die größte Mühe, uns so viel wie möglich beizubringen.
Nicht zu vergessen ist da auch Spark, der sicher der größte Artist von allen war. Er sprang mit Vorliebe auf das Deck der Surprise, um dann lachend (ja, lachend!) ins Meer zurückzurollen.
Als sich Konzelmann auf einem seiner Ausflüge verletzte, wurde durch sein Blut ein Hai angelockt. Während Spark ihm zu Hilfe kam und vom Hai zerfleischt wurde, konnten wir unseren Kollegen in Sicherheit bringen.
Am Morgen des nächsten Tages war Shy Guy sehr aufgeregt. Offensichtlich wollte er uns zeigen, was er auf dem Meeresboden entdeckt hatte. Konzelmann und ich sprangen in die Taucheranzüge und folgten ihm.
Auf dem Grund angekommen, fanden wir einen einzelnen D-Zug-Waggon. Er musste hier schon seit Jahrzehnten gestanden haben, da er völlig verrostet und mit Algen bedeckt war. Wahrscheinlich hatte er sich vom Zug gelöst, ohne dass der Lokführer es bemerkt hatte.
Überraschend war allerdings der gute Zustand der Gleise. Sie konnten erst vor kurzem verlegt worden sein, so dass sich die Frage stellte, wie der alte Waggon auf die neuen Schienen gekommen war - eine Frage, die wir sicherlich niemals beantworten können.
Die Türen waren fest verriegelt, und so bemühten wir uns, durch eines der eingedrückten Fenster ins Innere zu gelangen. Hier fanden wir etliche Kisten, die jeweils etwa der Größe eines Sarges entsprachen. Nachdem wir unter Shy Guys neugierigen Blicken die Algen entfernt und die erste Kiste geöffnet hatten, erwartete uns eine Entdeckung, die unser ganzes Leben verändern sollte.
„Nun“, sagte die Arbeitsberaterin, „das wird schwer werden.“ Sie überflog die Stellenangebote auf dem Bildschirm. „Ja, wenn Sie wenigstens eine handwerkliche Ausbildung gemacht hätten! Aber als gelernter Buchhalter...“
Bei einem Stellenangebot stutzte sie. „Hier, das könnte etwas für Sie sein: Lagerarbeiter, geringe körperliche Anforderungen, einfache Tätigkeit, Tariflohn... nein, das ist doch nichts für Sie.“
„Warum nicht?“
„Es ist eine Computerfirma.“
Sie suchte weiter und schien diesmal fündig geworden zu sein.
„Sie können Englisch?“
„Ja, einigermaßen.“
„Eine amerikanische Hotelkette sucht einen Hoteldiener... nein, auch nichts für Sie.“
„Und warum?“
„Können Sie sich vorstellen, wie viele Dollarscheine man Ihnen in die Hand drücken wird?“
Nervös ballte Konzelmann seine Fäuste in der Hosentasche. Während die Arbeitsberaterin weitersuchte, knackte er mit seinen Fingern.
„Das wäre die letzte Möglichkeit“, sagte sie; „Pförtner in einer Marmeladenfabrik.“
Plötzlich erstarb ihr triumphales Lächeln, so dass er resigniert fragte: „Und wo liegt der Haken?“
„Sie müssten die Frachtbriefe unterschreiben.“
Konzelmann seufzte.
„Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann“, sagte sein Gegenüber bedauernd. „Und Ihren Arbeitslosengeldantrag brauchen Sie auch nicht mehr abzugeben.“
„Wieso?“
„Mit Ihrer Krankheit stehen Sie dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung.“
Heutzutage braucht man keine Menschen mehr. Selbst Massenmorde werden ihnen von Maschinen abgenommen; man benötigt nur noch einen Unmenschen und einen Computer.
Der Unmensch unterschreibt eine Kriegserklärung (falls er sich überhaupt diese Mühe macht) und faxt den Befehl zu einem Flächenbombardement. Die entsprechenden Koordinaten werden in den Computer eingegeben, und eine ferngesteuerte Bombe ermordet 1.623.584 Menschen - manchmal mehr, manchmal weniger.
Wo früher der Arbeitsplatz von 20 Angestellten war, steht heute ein EC-Automat. Wo früher 5 Sekretärinnen beschäftigt waren, steht eine elektrische Schreibmaschine mit eingespeicherten Texten, die sogar der Chef bedienen kann.
Der Mensch ist so intelligent, dass er sich selbst überflüssig gemacht hat. Jetzt sollte er auch konsequent genug sein, sich selbst abzuschaffen.
daran zu gewöhnen, ohne technischen Firlefanz auszukommen; wir hüllen uns in Felle, leben in einer Höhle und essen Beeren und andere Früchte, die uns von Mutter Natur zur Verfügung gestellt werden.
Gelegentlich versuche ich auch einmal, ein Karnickel oder Eichhörnchen einzufangen - ich muss aber immer wieder feststellen, dass ein einfacher Buchhalter nicht flink genug ist, sich ein solches Tierchen zu schnappen. (Es kann auch sein, dass ich einfach zu weichherzig bin.)
Aus diesem Grund habe ich heute Morgen eine Fallgrube konstruiert und ein paar Grashalme und Löwenzahnblüten darauf gelegt; ich wüsste nicht, womit man sonst ein Karnickel ködern könnte.
Nun liege ich in sicherer Entfernung von der Falle, stecke mir ein Gänseblümchen ins Knopfloch und warte ab. Nach und nach lassen sich die Karnickel wieder blicken, um die Grube aber machen sie einen großen Bogen, als ob sie mich beobachtet hätten.
Am späten Nachmittag finde ich mich damit ab, Vegetarier wider Willen zu bleiben und gehe. Erschreckt horchen die Tiere auf und flüchten in den Wald. Dabei läuft eines genau in meine Falle, versucht noch, mit den Pfoten den rettenden Rand zu erreichen, rutscht aber unaufhaltsam in die Grube hinunter.
Ich greife zu dem Stein, den ich mir bereitgelegt habe, um mein Opfer zu erschlagen, und gehe zur Falle.
Aus dieser blicken mich zwei ängstliche große Augen an. Ich lasse den bereits erhobenen Arm wieder sinken und spiele mit dem Gedanken, das Karnickel wieder freizulassen. Dann schließe ich die Augen, denke an den Braten und schlage zu.
Nun kommt der wirklich schwierige Teil des Vorhabens: das Feuermachen. Ich sammle ein wenig trockenes Laub und Holz und schlage zwei Feuersteine gegeneinander, so wie man es im Geschichtsunterricht von den Steinzeitmenschen gehört hat. Als diese Methode bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht funktioniert, versuche ich es mit zwei Holzstücken, die ich aneinander reibe. Nach langer Zeit qualmt es zwar ein wenig, ein Feuer aber bekomme ich einfach nicht zustande. So lasse ich Holz und Karnickel liegen und gehe zurück zur Höhle.
Unzufrieden lege ich mich zum Schlafen und hoffe, dass der nächste Tag besser werden wird.
Nach dem Aufstehen erwartet uns aber bereits die erste böse Überraschung: die Ratten haben sich über unseren Fruchtvorrat hergemacht, und das wenige, das sie zurückgelassen haben, sieht nicht gerade genießbar aus. So gehe ich hungrig aus der Höhle, und hier erwartet mich der zweite Schlag: vor dem Eingang liegt ein Brief für mich.
Ungläubig öffnete ich ihn und fand meine Ausfertigung des Kreditvertrags, mit dem ich eigentlich ein neues Videogerät finanzieren wollte. Ich wusste
Jetzt legen Sie einfach diese Geschichte beiseite und sehen Sie sich im Zimmer um. Da steht der Fernseher, dort der PC, das Bücherregal, der Zeitschriftenkorb, die Playboy-Sammlung, das Familienalbum...
Alles, was aus Papier ist oder einen Bildschirm hat, legen Sie fein säuberlich auf einen (oder zwei oder drei) Stapel, und diese Erzählung obendrauf (Brieftasche nicht vergessen). Falls Sie es nicht fertigbringen, den ganzen Krempel auf den Sperrmüll zu stellen, dann verstauen Sie ihn zumindest auf dem Dachboden oder im Keller. Nun nehmen Sie eine Woche Urlaub und verbringen Sie diese allein in Ihrem generalüberholten Heim. Sieben Tage selbstverordneter Isolationshaft.
Na ja, so schlimm ist es auch wieder nicht; Sie haben ja noch den schönen Teppich, den Ausblick auf die Hauptverkehrsstraße, die Bilder (Bilder? Sie haben gemogelt!) und die wunderbaren Möbel (insbesondere natürlich die Hausbar).
Eine ganz besondere Freude würden Sie mir machen, wenn Sie mir Ihre Eindrücke von dieser Woche mitteilen könnten (falls die Anstaltsleitung Ihren Brief weiter leitet).
Wenn die Sonne hinter den Bergen aufgehen und ihre Strahlen auf den See werfen wird, wird Konzelmann im Fischerboot liegen, die Augen schließen und an nichts weiter denken. Sein Fang wird für die nächsten drei Tage ausreichen, das heißt, er wird drei Tage lang nicht mehr hinauszufahren brauchen.
Zweiundsiebzig Stunden Nichtstun - der Gedanke wird das Einzige sein, was ihn in der nächsten Zeit beschäftigen wird, und sein Traum wird sich lediglich um das Faulenzen drehen, während der Wind sein Boot immer weiter auf den See hinaus treiben wird.
In der Mitte des Sees, wo er schon die Schatten der höchsten Berge verlassen haben wird, wird sein Traum eine kleine Wendung nehmen: der Schlaf in seiner Kate wird durch den Nachbarn gestört werden, der sich mit einer Motorsäge vor der Haustür zu schaffen machen wird. In dem Augenblick, in dem Konzelmann sich erheben wird, um an sein Fenster zu gehen, wird er aus seinen Träumen erwachen und feststellen müssen, dass sein eigenes Boot von einem unbemannten Motorboot gerammt worden sein wird. Zwar wird er seine Nussschale wieder in die richtige Lage bringen können, sein großer Fang aber wird - mit Ausnahme weniger Fische - verloren gehen, so dass er an diesem Tag ein zweites Mal hinausfahren werden muss.
„Acht Uhr“, sagte er. Zeit für den alltäglichen Gang zum Friedhof.
Ein kleiner Vogel flog ihm voraus, spatzenähnlich, obwohl wir fest mit einem Raben oder zumindest einer Krähe gerechnet hatten.
Die Luft war frisch, und meine Hände klammerten sich um die tausend Gegenstände, die ich üblicherweise in den Hosentaschen spazieren trage. Einige Augenpaare verfolgten uns argwöhnisch, wir gingen aber unbeirrt weiter.
Nach und nach wurde die Dorfstraße zum reißenden Fluss, der einige herum tollende Katzen wie ein olympisches Spiel erleuchtete; wir stießen uns an den umstehenden Straßenschildern ab und beschleunigten unseren Schritt.
Die Wolken, die ihre Opfer mit einer heiteren Leichtigkeit in Sicherheit wiegten, fingen - als Nachtmahl vermutlich - Dutzende von Vögeln. Kaum flog ein Schwarm unter einer Wolke hindurch, so fiel diese wie ein riesiges Netz auf sie hinunter und begrub sie unter sich.
Wir durchschritten das Tor des Friedhofs, und ich bemerkte, dass auch er ein wenig nervös war. Seine Hände hatte er zu kleinen Fäusten geballt, mit denen er sich gelegentlich auf die Schenkel schlug. Ich hielt sein Benehmen für ungebührlich, sagte aber nichts, da er verheiratet war.
Bevor wir unser Ziel erreichten, mussten wir einige Gartenmöbel fortschaffen, die uns den Weg verstellten - jemand hatte sie hier offensichtlich vergessen, oder aber er brauchte sie zu Hause nicht.
Dann suchten wir die beschriebene Stelle und standen tatsächlich vor einem ausgehobenen Grab. Auch der Grabstein war schon aufgestellt: er trug den Namen, das Geburtsdatum und den morgigen Todestag.
Beschwingt verließen wir den Gottesacker, leicht tänzelnd, und schnippten mit den Fingern zu einer gedachten Melodie. Dann setzten wir uns, da es noch früh war, auf die Terrasse eines Cafés und bestellten einen Eisbecher.
Uns gegenüber saß eine hässliche fette Frau, die auf ihre wabbeligen Oberschenkel einen ebenso hässlichen fetten Schoßhund gebettet hatte. Mir hätte das weiter nichts ausgemacht, hätte dieser Hund mich nicht recht undezent darauf aufmerksam gemacht, dass meine Hose noch geöffnet sei.
Unauffällig blickte ich an mir hinunter und stellte fest, dass der Reißverschluss fachgerecht verschlossen war. Deshalb nahm ich die Sahneportion auf den Eislöffel und schleuderte sie dem Köter in seine platte Schnauze. Dann wandte ich mich wieder meinem Tischnachbarn zu.
Über den Grabstein sprachen wir an diesem Abend nicht mehr, und so brauchten wir, als du dich zu uns setztest, nicht das Thema zu wechseln.
Eine Weile gingen wir wortlos nebeneinander - sie scheint über etwas nachzudenken, und ich wagte es nicht, sie zu stören.
Manchmal bleibt sie stehen und sieht zur Seite; ich versuchte, ihrem Blick zu folgen, konnte aber nichts Besonderes entdecken. Dann lächelt sie - irgendwie fast mitleidig - und wir gingen weiter.
An einer Wegbiegung kam uns ein junges Mädchen auf einem Pferd entgegen. Das Mädchen trug eine durchsichtige Bluse (das war alles, was es trug), und aus eben diesem Grunde sah ich ihm nach.
Jetzt bricht meine Begleiterin ihr Schweigen: „Es ist seltsam“, sagt sie schmunzelnd, „aber ich habe gerade diesen Gedanken: die Menschen haben sich angewöhnt, auf zwei Beinen zu gehen, sich anzuziehen, verschiedene Sprachen zu sprechen, Häuser zu bauen, an Götter zu glauben, sich auf Befehl anderer umzubringen, zu rauchen und fernzusehen. Das Einzige, was in seiner ursprünglichen Form erhalten geblieben ist, ist der Sex.“
Ich erwiderte nichts, und sie verfällt wieder in ihr missverständliches Schweigen.
Auf einer Brücke saß ein alter Bettler, und es war interessant, die Menschen zu beobachten, die ihm etwas in den Hut warfen: einige beugten sich mitleidig hinunter, andere ließen die Münzen großkotzig aus Schulterhöhe fallen, und manche bückten sich sogar. Aber keiner von ihnen bemerkte, dass der Bettler schon tot war.
„Es ist seltsam“, sagt meine Begleiterin, „aber ich habe diesen Gedanken: wenn die Menschen nicht erkennen, ob jemand tot ist, wie wollen sie wissen, ob jemand lebt?“
Ich erklärte ihr, dass mir ihre spontanen Daseinsweisheiten zum Hals heraushingen, worauf sie die Beleidigte spielt und wir schweigend weiter gingen.
Dann kamen wir an dem Einsiedler vorbei, der seit Jahrhunderten an der gleichen Stelle saß, ohne je sein Schweigen gebrochen zu haben - trotz kindischer Provokationen, plumper Bestechungsversuche usw.
„Es ist seltsam“, sagte ich zu meiner Begleiterin, „aber ich habe gerade diesen Gedanken: würden die Menschen nur dann sprechen, wenn es notwendig ist, wäre es in den Städten viel ruhiger.“
An Konzelmann geht die allgemeine Aufregung im OP vorbei. Die hektischen Schwestern treten sich gegenseitig auf die Füße, und der Chirurg versucht verzweifelt, seinen Fehler wiedergutzumachen. Dann aber zeigt eine schnurgerade Linie auf dem Bildschirm den Gehirntod an, der Chirurg unterzeichnet einige Papiere, und Konzelmann beobachtet zufrieden, wie sein Körper abgedeckt wird, verlässt den Saal und betritt seine neue Welt: eine Welt ohne Bildschirme, Papiere und Unterschriften. Vielleicht.