Nachdem er Rosa und Fidel zu Bett gebracht hatte, kam Brigitte auf ihn zu. "Ravi", sagte sie förmlich, "ich muss mit dir reden. Ich werde mich scheiden lassen."
Als Brigitte am nächsten Morgen zur Arbeit ging, weckte er die Kinder und machte sich mit
ihnen auf den Weg zur Bank. Brigitte hatte ein Konto für die beiden eingerichtet, das Ravi jetzt
auflöste. Mit dem Geld würde er ein Restaurant in Kalkutta kaufen; dann hatte er Arbeit, die er
sonst schwerlich bekommen würde, und außerdem immer die Kinder um sich - und das war
ihm das Wichtigste. Wenn Rosa und Fidel groß waren, würde er ihnen das Restaurant
überlassen.
Als Ravi mit seinen Kindern die Moschee verließ, brannte die Sonne schon so heiß wie nie zuvor in diesem Jahr. Nach seiner Rückkehr aus Deutschland, in das er wegen der unerträglichen Diskriminierung als Unberührbarer geflohen war, blieb ihm nur eine Möglichkeit, dem menschenverachtenden Kastenwesen zu entkommen: der Übertritt vom Hinduismus zum Islam, in dem er und seine Kinder endlich als vollwertige Menschen behandelt wurden. Er dankte Allah, dass er es durchgesetzt hatte, seine Kinder zweisprachig aufwachsen zu lassen: Rosa hatte in den wenigen Wochen, die sie hier war, bereits jede Menge Freundschaften geschlossen und konnte in diesem Jahr problemlos eingeschult werden. Auch Fidel hatte keinerlei Umstellungsschwierigkeiten: sein erstes Wort war "Azadi". Während Rosa und Fidel im Kinderzimmer spielten, bereitete Ravi in der Küche - von der er abends auch das Restaurant betreute - das Essen zu. Rosa hatte von einem der Moscheebesucher einen Kreisel geschenkt bekommen und übte ununterbrochen so lange, bis sie das Spiel beherrschte. Fidel versuchte es mit wesentlich weniger Erfolg, aber das schien seiner guten Laune keinen Abbruch zu tun.
"Die Reportage war ein voller Erfolg", berichtete die Journalistin stolz. "Wir haben bergeweise Zuschriften von Zuschauern bekommen, die Ihre Zivilcourage bewundern - und schließlich gehört ja auch einiges dazu, seine Kinder aus den Fängen eines radikalen Moslems zu befreien. Einige haben zwar angemerkt, dass Ihre Kinder einen etwas apathischen Eindruck machten; aber ich denke, bei dem, was sie durchmachen mussten, ist das durchaus verständlich. Na ja, und ein wenig Lampenfieber wird wohl auch mitgespielt haben.
Und als Brigitte die ersten Zeilen ihres Romans niederschrieb, Rosa still vor sich hinweinte und Fidel leise "Azadi" sagte, ertränkte sich ein Vater im Ganges.
"Frei - heit", sagte Ravi langsam und deutlich und wiederholte es noch einmal: "Frei - heit".
Das Kind auf seinem Schoß lachte verlegen, machte aber keinerlei Anstalten, dem Vater
nachzusprechen.
Rosa hörte ein Auto vorfahren und lief zum Fenster. "Mutti ist da", rief sie, und Ravi nahm
Fidel auf den Arm und stellte sich hinter sie.
Brigitte saß auf dem Beifahrersitz und hielt die Hand ihres Freundes. Eine Bemerkung von ihm
zwang ein bitteres Lächeln auf ihr Gesicht.
Ravi war überrascht. Bis vor wenigen Wochen waren sie noch eine Feierabendfamilie wie jede
andere, jetzt aber kam der arbeitende Elternteil immer später, manchmal sogar überhaupt nicht
nach Hause. Brigitte hatte ihre große Liebe gefunden, und dass sie heute direkt von der Arbeit
kam, konnte nichts Gutes bedeuten.
Von Anfang an hatte Ravi das Gefühl gehabt, dass diese Ehe nicht gut gehen konnte. Damals,
vor acht Jahren, hatte er im Abschiebegefängnis in Glasmoor gesessen. Eine Gruppe von
Demonstrantinnen hatte es sich zur Aufgabe gemacht, einige der Insassen zu retten, indem sie
sie heirateten. Durch eine undichte Stelle beim Wachpersonal hatten sie Namen von
Gefangenen erfahren und konnten so Kontakt zu ihnen aufnehmen.
Ravi liebte Brigitte wirklich - nicht deshalb, weil sie ihn vor der Abschiebung bewahrt hatte,
sondern weil sie - in seinen Augen - einfach eine wunderbare Frau war. Brigitte allerdings
vermittelte ihm immer schon das Gefühl, mit ihrer Heirat lediglich einer moralischen
Verpflichtung nachgekommen zu sein, um ein Zeichen gegen eine menschenverachtende Asyl-
und Abschiebepolitik zu setzen.
Wie oft schon hatte sie ihm vorgehalten, dass er nicht arbeitete. Da nützte es ihm auch nichts,
ihr seine Sammelmappen von Absagen zu zeigen, mit denen seine Bewerbungen beantwortet
wurden; wobei gerade sie als engagierte Menschenrechtlerin am besten wissen sollte, dass er als
Ausländer keine Chance hatte. Und auch seine Ansicht, es sei besser, wenn einer sich um die
Kinder kümmern würde, teilte sie nicht; schließlich sei es ganz normal, dass die Eltern
arbeiteten und ihre Kinder in den Kindergarten schickten.
Tausend Fragen brannten ihm auf der Zunge, aber er stellte sie nicht. Er kannte die Antworten bereits: er wusste, dass die Scheidung seine Abschiebung bedeuten würde, und er wusste, dass er nach dem Recht dieses Landes seine Kinder verlieren würde, dass er Rosa und Fidel, die er über alles liebte, niemals wiedersehen würde.
Zu Hause angekommen sagte er Rosa, sie solle alles einpacken, was ihr und ihrem Bruder von
Bedeutung wäre, da sie verreisen müssten.
"Wieso denn?" fragte Rosa neugierig.
"Eure Mutter will sich von mir scheiden lassen. Das heißt, dass ich nach Indien zurückgehen
muss und euch nie wiedersehen darf."
"Das versteh ich nicht", erwiderte seine Tochter.
"Ich bin aus Indien, und ich darf nur deshalb in Deutschland leben, weil ich mit einer Deutschen
verheiratet bin. Wenn wir geschieden werden, muss ich zurückgehen, und ihr müsst bei eurer
Mutter bleiben."
"Und jetzt gehen wir nach Indien?" fragte Rosa aufgeregt.
"Ja", erwiderte Ravi. "In drei Stunden geht unser Flugzeug, und deshalb müssen wir jetzt ganz
schnell packen."
Das Lachen der Kinder verstummte, als die Tür aufgerissen wurde. Brigitte ging an den Kindern, die sich ängstlich in eine Ecke kauerten, vorbei in die Küche und richtete eine Waffe auf Ravi. "Hände hoch", befahl sie ihrem Mann, der sie ungläubig anstarrte. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, schoss sie auf einen der Töpfe, die über ihm im Regal standen. Zögernd hob Ravi seine Arme in die Luft und ließ zu, dass Brigittes Freund ihn mit Handschellen an den Griff des Ofens kettete. Dann versuchte sie, die Kinder, die sich wehrten, so gut es ging, in die Arme zu schließen.
"Freut ihr euch denn nicht, dass ihr eure Mama wiederhabt?" fragte sie. Als die beiden sich daraufhin noch weiter zurückzogen, griff sie sie an den Händen und zerrte sie hinaus. "Bacao! Bacao!" schrie Rosa, als sie auf der Straße waren. "Hilfe! Wir werden entführt!" - "Wenn du noch einmal schreist, bringe ich dich um!" herrschte Brigitte sie an und zwängte die weinenden Kinder in das bereitstehende Auto.
Weshalb ich noch einmal gekommen bin, ist Folgendes: die Befreiung Ihrer Kinder hat eine große Resonanz gefunden, und um den Frauen, denen es ähnlich geht, Mut zu machen, hielte ich es für eine großartige Sache, ein Buch darüber zu schreiben. Ich weiß zwar, dass Sie beruflich sehr eingespannt sind und abends noch die Kinder zu versorgen haben, ich denke aber, dass der Erfolg eines solchen Buches die damit verbundenen Opfer rechtfertigen wird. Und wenn Sie möchten, wird es auch ausreichen, das Gerüst der Story zu notieren: wir haben genügend Leute, die Ihnen aus diesem Soff einen Bestseller machen!"