Der Fall des Metzgermeisters Kaiser


Als der Metzgermeister Kaiser an jenem Morgen aufstand, befand er sich in bester Laune. Er brühte Kaffee auf und richtete sich einige Wurstsemmeln, zog die Vorhänge zurück und setzte sich an den Frühstückstisch. Die Sonne verbarg sich hinter einem dichten Wolkenschleier, doch das konnte seiner Stimmung keinen Abbruch tun. Morgen würde er bereits am Strand von Mallorca liegen und seinen wohlverdienten Jahresurlaub genießen, nachdem er heute den Verein für Bürgerrechte e. V. vor dem Untergang bewahren würde.
Der Verein befand sich seit langem in einer tiefen Krise. Die Vorstandsmitglieder waren hoffnungslos zerstritten, die Diskussionen dehnten sich ins Uferlose aus, und die Entscheidungsfindung schien oftmals völlig unmöglich. Hier hatte der Vereinsvorsitzende Kaiser schon einmal eingegriffen, indem er kurzerhand den Vorstand auflöste und seither sämtliche Aufgaben des Vorstands selbst wahrnahm. Heute würde er einen Schritt weitergehen: durch eine Art Ermächtigungsartikel wollte er sich zum Vorsitzenden auf Lebenszeit mit einem Vetorecht gegen alle Entscheidungen des Vereins wählen lassen. Sicherlich, es würde wie immer eine Handvoll Querulanten geben; da diese Maßnahme allerdings zum Besten des Vereins wäre, wusste er die Mehrheit der Mitglieder hinter sich.
„Julius, du darfst nicht zur Vereinssitzung gehen!" Seine Frau stürmte aufgeregt in die Küche. „Heute Nacht habe ich von einem riesigen Omelett aus dreiundzwanzig Eiern geträumt, und du bist als Füllung serviert worden!"
„Setz dich erstmal hin und trink einen Kaffee, um dich zu beruhigen. Mein ganzes Leben lang habe ich auf diesen Tag hingearbeitet - du glaubst doch nicht, dass ich jetzt alles eines Traumes wegen aufgeben werde?"
„Ich sage dir, dass diese Sitzung deinen Untergang herbeiführen wird. Kannst du nicht wenigstens versuchen, sie zu vertagen?"
„Eine einmalige Chance vertagen? Ganz bestimmt nicht!"
In diesem Augenblick betrat seine Schwiegermutter die Küche und nahm sich einen Kaffee. Als sie dabei die Filtertüte erblickte, versteinerte sich ihr Gesichtsausdruck.
„Hast du den aufgegossen, Julius?" fragte sie.
„Ja", antwortete Metzgermeister Kaiser schuldbewusst, „aber ich habe ihn nicht so stark gebrüht wie gestern. Wenn er dir immer noch zu schwarz ist, kannst du ja ein wenig heißes Wasser..."
„Nein, nein", unterbrach ihn die alte Frau, „ich meine den Kaffeesatz. Er besagt, dass du heute durch eine unbedachte Handlung alles verlieren wirst, was du mühsam aufgebaut hast. Es wird das Beste für dich sein, das Haus heute überhaupt nicht zu verlassen!"
„Um Gottes willen", raufte sich Metzgermeister Kaiser die Haare, „warum muss ich nur in eine so abergläubische Familie eingeheiratet haben?"
Jetzt hörte er den holprigen Schritt seiner Mutter, die die Stiege herunterhumpelte.
„Hast du schon dein Horoskop gelesen?" fragte sie aufgeregt. „Heute wirst du von einem schrecklichen Unglück heimgesucht werden. Du solltest besser im Bett bleiben."
„Das Unglück macht auch vor Betten nicht Halt, Mutter. Und ich werde meine Zukunft nicht eines Horoskops wegen aufs Spiel setzen."
Plötzlich hatte er es eilig, das Haus zu verlassen. Er zog sein bestes Hemd an und seinen besten Anzug, band sich seine Lieblingskrawatte um und stürmte zur Tür, wo er geradewegs dem Kassenwart Hüttelmeyer in die Arme lief. "Die Sterne stehen äußerst ungünstig für dich, Julius."
„Nein", seufzte Metzgermeister Kaiser, „nicht auch noch du!"
„Du solltest die Sitzung wirklich vertagen, sonst wird Entsetzliches geschehen!"
„Was soll denn geschehen?" fragte ihn der Vorsitzende ruhig. „Ich weiß die Mehrheit der Mitglieder hinter mir..."
„Da wäre ich mir eben nicht so sicher. Weißt du, es herrscht eine etwas seltsame Stimmung bei den Mitgliedern, und es wäre sicher besser, wenn du erstmal deinen Urlaub..."
„Also schön", gab Metzgermeister Kaiser endlich nach, „dann sage du den anderen, dass die Sitzung vertagt ist wegen Krankheit oder sonst was..."
In diesem Augenblick traf Meuchler auf die beiden und hörte entsetzt von ihrem Vorhaben.
„Das kommt ja gar nicht in Frage", wandte er ein, griff den Vorsitzenden am Arm und zog ihn mit sich. „Wie sollten die anderen Mitglieder ihre Geschicke vertrauensvoll in deine Hand legen können, wenn du Angst vor einer Sitzung hast, nur weil deine Frau schlecht geträumt hat!"
Dies klang einleuchtend, und widerstandslos ließ Metzgermeister Kaiser sich begleiten. Auf dem Wege in die Stadt aber suchte er Madame Camus auf, die es hervorragend verstand, seine Tarotkarten zu lesen. Jedes Mal hatte sie ihm eine günstige Prognose gestellt, und jedes Mal hatte sie richtig gelegen. Sie war die einzige Person, die ihn vor der Sitzung wieder beruhigen könnte.
Sie hielt ihm die Karten hin, und er zog eine. Es war der Tod.
„Der Tod heißt nicht zwangsläufig, dass Sie sterben müssen", erläuterte sie. „Er bedeutet lediglich, dass ein entscheidender Wendepunkt in Ihrem Leben bevorsteht..."
„Ich will nicht, dass sich etwas ändert", erwiderte ihr Klient. „Aber ich war auch nicht richtig konzentriert; lassen Sie mich noch einmal ziehen."
Er wusste, dass dies den Regeln widersprach, und sie wusste, dass er es wusste. Aber da sie es nicht riskieren wollte, ihren besten Kunden zu verlieren, ließ sie ihn noch einmal mischen und eine Karte ziehen. Es war der Tod.
„Ich war mit meinen Gedanken wieder woanders", wandte er ein, mischte den Stapel ein weiteres Mal und zog erneut eine Karte. Es war der Tod, und wortlos lief er hinaus zu Meuchler, um seinen Weg zum Vereinslokal fortzusetzen.
Was kann denn schon passieren, dachte er wieder. Die Mehrheit steht hinter mir, und selbst wenn eine Minderheit eine Verschwörung anzetteln sollte, werden die anderen mir zur Seite stehen, allen voran der Seppl.
Der Seppl war der Sohn seiner Jugendliebe; nicht sein eigenes Kind zwar (das stand aufgrund seiner Zeugungsunfähigkeit zweifellos fest), aber der Metzgermeister liebte ihn so, als wäre dies der Fall. Und diese tiefe Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit.
In seiner Jugend war der Seppl rastlos und wusste nicht so recht, was er wollte. Er tat mal dies und mal jenes, ohne lange das Interesse an etwas zu behalten. Dem Metzgermeister aber war es gelungen, ihn für Politik zu begeistern, den demokratischen Gedanken in ihm zu verankern und ihm deutlich zu machen, wie wichtig es für jeden Bürger ist, mit allen Mitteln für seine Rechte einzutreten. In den letzten Jahren war der Seppl zu einem glühenden Verfechter der Demokratie geworden, zu einem glänzenden Redner und der Zukunftshoffnung des Vereins, und niemals hat er den Lehrer vergessen, der ihm diese Werte vermittelt hat: für den Vereinsvorsitzenden würde der Seppl mit seinem Leben einstehen.
Vor dem „Bürgerstübl", wo die Sitzung abgehalten werden sollte, trat ihm Hinterhofer entgegen, ein weiteres Vereinsmitglied: er stand nie an vorderster Front, er scheute das Rampenlicht, aber wenn er etwas zu tun versprach, tat er es umgehend. Der richtige Mann, wenn Verlässlichkeit gefragt war.
Der Hinterhofer also erwartete ihn vorm Lokal und drückte ihm hastig einen Zettel in die Hand. „Sofort lesen!" flüsterte er aufgeregt und war schon wieder verschwunden.
Metzgermeister Kaiser las: „1 Liter Milch, 1 Schwarzbrot..." Offenbar hatte es der Hinterhofer so eilig gehabt, dass er die Nachricht auf die Rückseite eines Einkaufszettels geschrieben hatte.
Diese lautete: „Ein Attentat ist geplant! Du sollst mit dreiundzwanzig faulen Eiern beworfen werden!"
Hier zeigt sich, bei aller Verlässlichkeit, einmal mehr der Hang des Hinterhofer zu maßloser Übertreibung, denn tatsächlich handelte es sich um sehr frische Eier.
Metzgermeister Kaiser jedoch sollte keine Gelegenheit bekommen, die Nachricht zu lesen, denn in diesem Moment wurde er von etlichen Vereinsmitgliedern mit Bitten und Fragen bedrängt.
Er winkte ab und begab sich zu seinem Vereinsvorsitzendensessel. „Einer nach dem anderen", mahnte er und setzte sich.
Als erster trat der Windschnipf vor, der sich vor seinen Sessel kniete und seine Hand küsste.
„Es ist wegen des Vereinsausschlusses meines Sohns, des Peters. Er hat jetzt eine Arbeit gefunden und bekommt in zwei Wochen seinen ersten Lohn ausbezahlt. Dann wird er in der Lage sein, die rückständigen Mitgliedsbeiträge..."
„Die Mitgliedsbeiträge sind im Voraus fällig, und das hat der Peter gewusst."
Schon wollte der Metzgermeister Kaiser den nächsten Bittsteller aufrufen, sah sich aber plötzlich von Vereinsmitgliedern umringt, die sich mit dem Vater solidarisch erklärten. Der Vater wurde nun dringlicher und zerrte am Jackett des Vorsitzenden, so dass er seine Schulter entblößte.
Dies war das verabredete Zeichen. Das erste Ei traf den Vorsitzenden in den Nacken, das zweite mitten ins Gesicht, das dritte, von Meuchler geworfen, in den Unterleib. Metzgermeister Kaiser erhob sich und wollte seine Freunde zu Hilfe rufen; als er jedoch sah, dass sogar der Seppl mit einem Ei in der Rechten zum Wurf ausholte, wusste er, dass seine Sache verloren war. Er gab sich geschlagen, zog den Aufschlag seines Jacketts über seinen Kopf und sank, getroffen von dreiundzwanzig Eiern aus Bodenhaltung, in seinem Sessel zurück.


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