Fiete brach mitten im Tanz ab, drehte sich um und ging.
Seit er auf der Welt war, lief jeder Tag nach dem gleichen Muster ab; von morgens bis abends buk seine Familie Brot und Kuchen. Wenn man damit fertig war, brachte man einen Teil davon zum Fleischer, zum Gemüsehändler und zum Floristen; von diesen bekam man wiederum Schnitzel, Erbsen und Rosen.
Bevor man zu Bett ging, tanzte man um das goldene Kalb im Hof. Jede Familie im Dorf hatte ein eigenes Kalb, und jeder war davon überzeugt, dass das seine leben würde. Fiete hatte schon von vielen Fällen gehört, in denen ein Kalb ein paar Worte gesprochen oder mit dem Schwanz gewedelt haben sollte, er selbst aber hatte so etwas noch nicht erlebt.
Nach dem Tanz legte man alle Brote, die man noch hatte, vor die Tür, um dem Kalb zu opfern. Meistens reichte das Opfer jedoch nicht aus, und man fand am nächsten Morgen einen Schuldschein vor. Dann konnte man versuchen, die Menge am folgenden Tag nachzuliefern (was dazu führte, dass man bis in die Nacht arbeiten musste) oder dem Kalb einen Teil des Hauses überschreiben.
„So ist nun mal das Leben“, sagten die Leute im Dorf immer wieder, aber Fiete sah das anders. Leben - das klang nach mehr als nur Dasein, und so brach Fiete mitten im Tanz ab, nahm seine Zahnbürste und verließ das Dorf, um sich auf die Suche nach dem Leben zu machen.
Als Fiete einen Tag durch den Wald gegangen war, hörte er plötzlich Geräusche. Neugierig sah er sich um und bemerkte zwischen den Bäumen einen riesigen Betonklotz. Er ging hinein und befand sich in einem großen Raum, in dem sich Hunderte von Menschen gegenseitig auf den Füßen standen. Der Lärm kam aus gigantischen Lautsprechern - er wurde allgemein als Musik bezeichnet, es war im Grunde aber nur ein dröhnend lauter Takt, zu dem ein paar Leute auf einer großen Fläche herumhopsten.
Andere saßen an Tischen oder standen irgendwo, hatten ein Glas in der Hand und sprachen miteinander. Was sie sich zu erzählen hatten, war völlig belanglos, und Fiete hatte den Eindruck, dass sie nur redeten, um etwas von sich zu geben.
Ein junger Mann begrüßte ihn, stellte sich als Peter vor, drückte ihm einen Drink in die Hand und fragte ihn, wo er herkomme, wo er hinwolle, ob er sich hier wohl fühle usw. Als Peter das Gespräch dann auf Arbeit und goldene Kälber lenkte, verabschiedete sich Fiete höflich, verließ den Bunker und setzte seine Suche fort.
Am darauf folgenden Tag kam er an eine Lichtung und sah etliche junge Leute, die einander in den Armen lagen, Blumen in die Haare steckten und Lieder über Liebe und Frieden sangen.
Fiete wurde begrüßt, als hätte er schon immer dazu gehört, er ließ sich von den anderen umarmen und sang die Lieder, soweit er sie kannte, mit. Man gab ihm eine Pfeife, die man mit Gras gefüllt hatte, zu rauchen, und Fiete fand, dass sie gar nicht übel schmeckte.
Dann meinte einer, dass man nach einem solchen Fußmarsch unbedingt ein Mädchen braucht. Er fragte seine Freundin, ob es ihr etwas ausmachen würde, mit Fiete zu schlafen. Es machte ihr nichts aus, und so verschwanden die zwei in den Büschen.
Als sie wiederkamen, war unter den anderen die absolute Panik ausgebrochen: einer von ihnen hatte sich eine Überdosis Heroin gespritzt und war sofort tot. Man begrub ihn feierlich und ließ noch einmal die Pfeife rumgehen. Die Stimmung war sehr gedrückt, und so legten sich die meisten bald unter einen Baum, um zu schlafen.
Als niemand mehr wach war, stand Fiete leise auf und ging.
Am nächsten Morgen kam er in ein Dorf, das von Stacheldraht umgeben war. Er wurde neugierig, und als er ein kleines Loch im Zaun fand, zwängte er sich mühsam hindurch.
Vorsichtig schlich er durchs Gebüsch, und plötzlich stand er in einem großen Hof, auf dem ihn Hunderte von goldenen Kälbern anstarrten.
Fiete hatte sich kaum von diesem Anblick erholt, als er hinter sich eine Stimme hörte: „Na, Freundchen, was haben wir denn hier verloren?“
Der Mann packte ihn am Kragen und brachte ihn zum Direktor des Kälberwerks, der gleichzeitig Bürgermeister war. Er war ein schleimiges widerliches Männchen, das sich mit Fiete aber betont freundlich unterhielt.
„Eigentlich gehen wir mit Einbrechern in unserem Betrieb nicht gerade zimperlich um. Aber du hast das Glück, dass wir noch einige engagierte junge Leute benötigen, und du scheinst mir genau der Richtige zu sein.“
Und so bekam Fiete das Angebot, bei freier Kost und Logis und einer nicht geringen Umsatzbeteiligung Kälber zu verkaufen und Opfer einzusammeln.
Da er keine andere Wahl hatte, sagte er zu und bekam sofort eine besonders schön eingerichtete Wohnung zugewiesen. Als er aber in der Nacht zum Sammeln in das nächste Dorf geschickt wurde, schlug er eine andere Richtung ein und setzte seine Suche fort.
Es war kalt, und Fiete zitterte am ganzen Körper. Er hoffte, in der Nacht noch auf Menschen zu treffen, die ihm helfen könnten, schließlich aber lehnte er sich erschöpft an einen Baum, sackte zusammen und schlief ein.
Frühmorgens wachte Fiete auf und spürte eine angenehme Wärme, obwohl es immer noch so kalt war wie am vorigen Abend. Er stand auf, ging weiter und begann zu singen. Er hatte sich noch nie so wohl gefühlt und wollte die ganze Welt umarmen. Leicht kam er sich vor, gerade so, als könne er fliegen; er spürte nicht einmal mehr die Füße beim Gehen, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass seine Suche beendet war: er lebte!
Nun sah er sich ein letztes Mal um und stellte fest, dass sein Körper noch immer unter dem Baum lag.