Böses Erwachen
oder
Das Kuckucksei


Jehova rülpste und ließ sich den Pokal nachfüllen. Während die Engel um ihn herum noch ihre Sauflieder grölten, begann er wieder einmal damit, ein neues Sonnensystem zu formen, wie er es am Ende jedes Gelages zu tun pflegte.
Die Sonne war sofort fertig, und er fragte seine gefiederten Zechfreunde nach ihrer Meinung.
„Es ist die größte Sonne, die ich je geschaffen habe. Was meint ihr dazu?“
„Imposant“, staunte Gabriel, und auch die anderen Engel versuchten untertänigst, ihrer Bewunderung Ausdruck zu verleihen.
Nur Luzifer, der Engel des Lichts, stand daneben und sagte nichts; es war ihm aber anzusehen, dass er mit dem Machwerk nicht so ganz zufrieden war.
„Und du“, herrschte Jehova ihn an, „was denkst du?“
„Ein bisschen dunkel für eine Sonne“, erwiderte Luzifer nachdenklich, „und außerdem ziemlich klobig. Du scheinst wirklich zu glauben, dass Größe und Schönheit das Gleiche sind.“
„Du nörgelst ja immer nur an meinen Sachen herum“, fauchte ihn der Herr an.
„Ich bringe ihn um!“ bot sich der Würgeengel an, wurde aber von Jehova zurück gehalten: „Dein Einsatz kommt noch, nur Geduld.“

Am nächsten Morgen wachte Luzifer einigermaßen ausgenüchtert auf und beschloss, etwas ganz Besonderes zu schaffen. Alle Engel experimentierten in ihrer Freizeit mit Universen herum, aber keiner konnte Sterne zustande bringen, die größer als Jehovas oder heller als die von Luzifer waren.
Er begann damit, einen winzig kleinen Planeten zu basteln und legte dabei großen Wert auf Feinheiten. Es war recht mühsam, in Handarbeit einen solchen Miniaturplaneten fertigzustellen, aber mit viel Liebe und Geduld gelang es ihm, den schönsten Himmelskörper zu schaffen, den es je gegeben hatte.
Damit man seine reizvolle Schöpfung auch in allen Einzelheiten bewundern konnte, machte er gleich eine Sonne dazu; nicht besonders groß, aber dafür schön hell, so wie er es gern hatte.
Zufrieden betrachtete er sein Werk und war fasziniert davon. Aber das sollte erst der Anfang sein - morgen würde es richtig losgehen! Dann schüttete er sich noch einen Gutenachtpokal zwischen die Kiemen, um den ersten Tag gebührend zu begießen und fiel todmüde ins Bett.

Als er am nächsten Morgen erwachte, hatten sich die anderen Engel schon neugierig auf sein neues Projekt gestürzt. Auch Jehova stand dabei und lästerte mit den anderen.
„Was ist denn das für ein Fizzelplanet? Dir ist wohl die Materie ausgegangen!“
Die Anwesenden amüsierten sich himmlisch über die Meinung ihres Herrn, und von niemandem schien seine Schöpfung ernst genommen zu werden.
Aber Luzifer gab nicht auf. Sicherlich, jetzt bemerkte er auch, dass das Ganze noch etwas chaotisch aussah, und so beschloss er, ein wenig Ordnung in die Sache zu bringen. Zunächst trennte er das Wasser vom Land, und schon sah alles viel professioneller aus. Dann machte er sich an die Landschaften, und schließlich sorgte er dafür, dass der Planet mit einer Atmosphäre aus Sauer- und Stickstoff umgeben wurde; eine Variante, die er in vorher gehenden Versuchen nur sehr selten und unausgereift praktiziert hatte. Hierdurch erreichte er, dass man durch eine Art blauen Vorhang blickte, wenn man von diesem Planeten aus ins All sah.
Dann ließ er das Wasser im Meer teilweise verdampfen und diesen Dampf in Wolkenform in die Atmosphäre, die er den Himmel nannte, aufsteigen, um von dort wieder ins Meer oder aufs Land zu fallen.
Abends betrachtete er dann sein Machwerk und war mit sich und der Welt zufrieden, und da Arbeit bekanntlich durstig macht, gönnte er sich noch einen kleinen Umtrunk, bevor er in die Kissen fiel.

Frühmorgens wurde er dann vom Hohngelächter des Herrn geweckt.
„Sieh sich das mal einer an! Während wir uns mit ganzen Universen abplagen, hat unser Lichtengel nichts Besseres zu tun als sich mit solchem Kleinkram abzugeben.“
Die anderen teilten seine Ansicht, nur Raphael meinte: „Na ja, eigentlich sieht es doch ganz nett aus...“
„Blödsinn“, belehrte ihn Jehova, „der Kleine will sich nur wichtig machen.“
„Ich mach ihn platt!“, meldete sich wieder der Würgeengel, wurde aber erneut vom Chef zurechtgewiesen und gab erst einmal Ruhe.
Als die Lästerer dann verschwunden waren, machte sich Luzifer wieder ans Werk. Seinem blauen Planeten verpasste er nun eine grüne Ausstattung. Sicher, die Farben bissen sich ein wenig, aber von weitem sah noch alles blau aus, und das war die Hauptsache. Außerdem waren ja nicht alle Pflanzen grün; er schuf eine Flora in den prächtigsten Farben, die der Himmel vorrätig hatte. Einer der Höhepunkte seiner Arbeit an diesem Tag war sicher das Gänseblümchen, das durch seine Einfachheit und Schönheit das Auge verzauberte, ebenso wie die Fliegenfalle, die er allerdings noch zwei Tage hungern ließ.
Abends machte er sich dann Gedanken über die Lebensdauer seines mittlerweile drei Tage alten Vorhabens. Je weiter es sich entwickelte, desto ärgerlicher wurde Jehova. Es war nur eine Frage der Zeit, wann ihm der Herr einen Strich durch die Rechnung machen würde. So schüttete er seine Sorgen in einen Pokal Wein, schlief fest und träumte schlecht.

Am nächsten Tag stand wieder eine Horde neugieriger Engel vor seinem Machwerk. Sie flüsterten miteinander, aber aus manchen Gesichtern glaubte er versteckte Anerkennung herauslesen zu können.
Jehova klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter. „Weißt du was?“ fragte er. „Du vergisst dein albernes Projekt und wir machen mal wieder ein zünftiges Besäufnis, einverstanden?“
„Morgen Abend“, erwiderte Luzifer. „Dann bin ich mit meinem Planeten fertig.“
„So fertig wie der bist du schon lange“, zürnte der Herr und ließ ihn allein.
„Irgendwas fehlt noch“, murmelte der Lichtengel, als er sich seine Erde betrachtete, die allein um die eine Sonne kreiste. So formte er noch einige weitere Planeten, manche wesentlich größer und andere ein wenig kleiner als den ersten. Dann machte er noch ein paar Monde dazu, die er wahllos auf die anderen Planeten aufteilte, so dass für den blauen Planeten nur noch ein recht kleiner übrig blieb.
Am Schluss zog er noch den Treuering Jehovas, den jeder Engel tragen musste, über einen der Himmelskörper und fand, dass es ganz gut aussah.
Am Abend dieses vierten Tages wurde er wieder depressiv und dachte darüber nach, auf welche Art und Weise der Herr sein Prachtwerk wohl zerstören würde; vielleicht mit einem gigantischen Kometen, vielleicht auch mit einem dieser schwarzen Löcher, die er vor einiger Zeit als neue Spielvariante erfunden hatte.
Aus lauter Sorge um den Bestand seiner Arbeit kippte sich Luzifer an diesem Abend einen hinter die Binde und schwanke dann recht unbeholfen in die Koje.

Jehova weckte ihn, indem er ihn an der Schulter rüttelte. „He, Luzifer, hast du nicht Lust, mit mir ein paar überfällige Pokale zu leeren? Dein Schwachsinnsplanet hat doch wirklich noch genügend Zeit.“
„Heute Abend“, antwortete Luzifer unbeirrt. „Sobald die Erde fertig ist, gibt es das größte Saufgelage, das der Himmel je gesehen hat, und zwar mit Erdwein!“
„Ach, leck mich doch am...“, schrie Jehova aufgebracht. (Jahre später versuchte er, dieses Zitat einem anderen in die Schuhe zu schieben.)
„Ich mach ihn alle!“ ereiferte sich der Würgeengel ein weiteres Mal, aber Jehova packte ihn am Kragen: „Wenn du dich nicht endlich zusammenreißt, werde ich deinen Auftrag zur Strafe selbst erledigen.“
Danach saß Luzifer wieder an seinem Projekt, und als er gerade anfangen wollte, legte sich ein Arm um ihn.
„Ich weiß, was du befürchtest“, sagte Michael zu ihm, „aber ich glaube nicht, dass er deinen Planeten zerstören wird. Wir anderen sind alle davon fasziniert, und er weiß das. Und ich habe das Gefühl, dass auch sein Neid irgendwann verfliegen wird.“
„Wir wollen es hoffen“, erwiderte Luzifer zweifelnd und machte sich ans Werk.
Er begann damit, mobile Lebewesen auf seinem Planeten zu verteilen, die im Wasser, auf dem Land und (zumindest zeitweise) in der Luft lebten. Die Vielfalt der Arten übertraf beinahe seine Pflanzenwelt, und er war zufrieden mit dem, was er geschaffen hatte. Die Erde war perfekt!
Am Abend dieses fünften und letzten Schöpfungstag feierte er mit den anderen Engeln ausgiebig das gelungene Kunstwerk und ließ sich endlich mal wieder so richtig voll laufen.
Am sechsten Tage aber ruhte er; das bedeutet, dass sich das Gelage morgens in Form eines Frühschoppens fortgesetzt wurde und sich bis in die späte Nacht hineinzog. Immer wieder prostete man dem Genie zu, und der Tatsache, dass Jehova und der Würgeengel nicht dabei waren, maß man keinerlei Bedeutung zu - man führte die Abstinenz der beiden lediglich auf ihre schlechte Laune zurück.

Am siebten Tag wachte Luzifer mit einem etwas schwereren Kopf als sonst auf, musste feststellen, dass mit seiner Erde etwas nicht stimmte, und fand sehr schnell die Ursache dafür.
„Um Gottes willen“, fragte er den Herrn, „was soll denn das sein?“
„Das sind Menschen - Wesen, die ich nach meinem Bild erschaffen habe. Und du wirst sehen“, höhnte Jehova, „in ein paar Stunden wird von deinem blauen Planeten nichts mehr übrig sein!“


© 6232 RT (1991 CE) by Frank L. Ludwig