Demokratie


Es war ein heißer Sommertag, als der 14-jährige Paul zum Heimleiter gerufen wurde; angeblich hatte man gute Neuigkeiten für ihn.
Als er das Zimmer betrat, stand er zwei Greisen gegenüber, die ihn lang und breit angrinsten. Der erste trug einen Vollbart, eine große Zahnlücke und dreckige Jeans und machte einen recht ungepflegten Eindruck.
Der zweite war glatt rasiert, hatte gelbe Zähne, eine große Brille und trug einen steifen Anzug. Seine spärliche Haarpracht hatte er mit einem Schuss Pomade in Form gebracht, er stank entsetzlich nach teurem Aftershave und machte nicht den Eindruck, als ob er für ein Kind auf der Straße die Bremse strapazieren würde.
„Diese netten Herren möchten dich adoptieren", eröffnete ihm der Heimleiter. „Ich lasse dich ein halbes Stündchen mit ihnen allein, und dann kannst du dir aussuchen, mit wem du gehen willst."
Beide stellten Paul dieselben bedeutungslosen Fragen: wo er herkomme, wie er sich die Zukunft vorstelle, ob er Geschwister habe usw. Keiner war daran interessiert, ob er gerne John Lennon hört oder Heinrich Heine liest.
Beide begrapschten ihn so oft wie möglich, beide hatten Mundgeruch, beide sabberten beim Sprechen. Paul entschloss sich schließlich für den zweiten; wo Geld ist, dachte er, fällt für mich vielleicht auch ein wenig ab.

Stolz wie ein Truthahn stieg der Alte mit ihm in seine Limousine. „Siehst du", schmunzelte er, „das ist Demokratie. Du hast dich für mich entschieden, und jetzt werde ich mich vier Jahre lang um dich kümmern."

Paul ahnte Schreckliches.


© 6231 RT (1990 CE) by Frank L. Ludwig