Bürokratenlatein


"Guten Tag."
Die Frau am Schalter murmelte etwas, ohne mich anzusehen.
Nach etwa zwei Minuten legte sie die BILD zur Seite und fragte mich mürrisch: "Bitte?"
"Ich möchte meine Existenzberechtigung verlängern lassen."
Die Frau sah nur kurz in den abgelaufenen Existenzausweis und nahm wieder die BILD zur Hand.
"Sie wohnen in den Schlachterbuden, da müssen Sie sich in Zimmer 19 anstellen."
Ich wartete also vor Zimmer 19, bis ich wieder an der Reihe war.
"Bitte?"
Das Grüßen hatte ich schon aufgegeben, ich reichte der Frau den Schein und wiederholte mein Anliegen.
"Diese Existenzberechtigung kann nicht mehr verlängert werden, weil sie seit mehr als drei Wochen abgelaufen ist. Sie müssten eine neue beantragen. Haben Sie ihre Papiere mit?"
Ich legte sie vor: meine Geburtsurkunde, die meines Sohnes, meinen Bundespersonalausweis, den Reisepass, die Steuerkarte und den letzten Gehaltsstreifen.
"Sind Sie ledig?"
"Nein, verheiratet."
Das Telefon klingelte, und die Frau nahm den Hörer ab. Dann zog sie das BILD-Kreuzworträtsel aus der Schublade.
"Tintenfisch?... Nautilus... Ja, bitte."
Dann wandte sie sich wieder an mich: "Verheiratet? Haben Sie die Heiratsurkunde dabei?"
"Nein, die ist verloren gegangen."
"Dann müssen Sie beim Standesamt eine Kopie besorgen. Aber das hat schon geschlossen, da müssen Sie bis morgen warten."
"Und dann hätte ich alles Nötige für den Antrag?"
"Ja. Wiedersehen."
Als ich am nächsten Tag nur eine dreiviertel Stunde auf meine Heiratsurkundenkopie zu warten brauchte, wurde ich richtig optimistisch; ich glaube, ich lächelte sogar, als ich ins Zimmer 19 eintrat. Wieder wartete ich, bis der Angestellte - diesmal saß dort ein junger Mann - die BILD zur Seite legte und mich nach meinen Wünschen fragte.
"Ich möchte eine neue Existenzberechtigung beantragen."
Dann legte ich wieder alle Papiere vor: die alte Existenzberechtigung, meinen Bundespersonalausweis, meine Geburtsurkunde, die meines Sohnes, den Reisepass, die Steuerkarte, den letzten Gehaltsstreifen und die Heiratsurkundenkopie.
"Die Kopie ist aber nicht beglaubigt.", stellte er fest.
"Eigentlich müssten Sie das ja beim Standesamt machen lassen, aber wir können ja eine Ausnahme machen."
Er rief tatsächlich beim Standesamt an und ließ sich alle Angaben bestätigen, dann gab er mir einen kleinen Zettel mit der Aufschrift "5.-".
Ich solle durch das Zimmer gehen, bis zur Ecke da hinten, da solle ich mir für 5.- eine Gebührenmarke kaufen. Dann beglaubigte er mir die Heiratsurkundenkopie, indem er die Gebührenmarke auf die Rückseite klebte, drei oder vier verschiedene Stempel auf die Marke drückte und schließlich etwas dazu malte, was wohl sein Handzeichen darstellen sollte.
"Passfotos?"
Ich holte zwei wunderschöne Passfotos aus dem Portemonnaie, die dem jungen Mann aber gar nicht passten.
"Schwarzweiß geht nicht mehr. Seit einem Monat müssen alle Passbilder farbig sein. Außerdem brauche ich vier identische Bilder, nicht zwei."
Am nächsten Tag (ich musste mir zum dritten Mal freinehmen) saß im Zimmer 19 wieder die Frau, die mir nicht gesagt hatte, dass die Heiratsurkundenkopie beglaubigt werden musste und die Passbilder farbig, identisch und vier zu sein hatten.
Wieder legte ich alles vor: meine Geburtsurkunde, die meines Sohnes, den Bundespersonalausweis, den Reisepass, die Steuerkarte, den letzten Gehaltsstreifen, die alte Existenzberechtigung, die beglaubigte Heiratsurkundenkopie und vier identische, farbige Passfotos.
"Und was wollen Sie damit?"
"Eine neue Existenzberechtigung."
Sie sah sich die Papiere an und schien verwundert zu sein über deren Vollständigkeit. Dann gab sie mir ein Formular, das ich vollständig ausfüllen musste, und einen Zettel für "10.-" Gebührenmarken. Dann legte sie meinen Antrag mit der alten Existenzberechtigung und den Passfotos in den Postkorb und gab mir die übrigen Papiere nebst einer Bescheinigung zurück, die auswies, dass ich einen Antrag gestellt und bezahlt hatte.
"Die Existenzberechtigung können Sie in drei bis vier Wochen in Zimmer 11 gegen diesen Schein einlösen. Bis dahin müssen wir Ihre Einwohnerkarte aus der Kartei herausnehmen. Wenn Sie die Existenzberechtigung haben, müssen Sie sie umgehend bei mir vorzeigen, damit ich Ihre Einwohnerkarte wieder einsortieren kann."
"Und wie weise ich bis dahin meine Existenz aus?"
Sie füllte mir ein Formular mit folgendem Text aus:
Er/Sie ist heute am Leben gewesen.
Für die Beglaubigung musste ich noch einmal Gebührenmarken für 2.- kaufen.
"So eine Bescheinigung müssen Sie sich jeden Tag ausstellen lassen, bis Sie die Existenzberechtigung haben."
So ging ich vier Wochen lang tagtäglich zum Bezirksamt Altona und ließ mir für zwei Mark bestätigen, dass ich noch am Leben war.

Als ich nach Ablauf der Frist mit der neuen Existenzberechtigung nach Hause kam, konnte ich endlich zu meiner Frau sagen: "Ich bin wieder da!"


© 6222 RT (1981 CE) by Frank L. Ludwig