Eine Welt für Breitmauler


Das Café Schmanzl war das beste Café am Ort, und es brachte einen beträchtlichen Prestigegewinn, vor (oder gar in) diesem Café gesehen zu werden. Aus diesem Grund flanierten ein paar Dutzend Wichties mit ihren Mobiltelefonen vorm Schmanzl auf und ab; einige von ihnen gaben ihren imaginären Begleitern durch das Fenster gelegentlich ein Zeichen, dass sie sogleich zurückkämen, um so den Eindruck zu erwecken, sie selbst seien Gäste des Etablissements.
Breitmauler zögerte einen Augenblick, bevor er das Café betrat. Es weckte schmerzliche Erinnerungen, denn im Schmanzl hatte er fünf Jahre zuvor während der Kaffeeunruhen seinen Vater und zwei seiner Brüder verloren. Doch diesmal blieb ihm keine Wahl: Moser kam heute an, ohne den die Revolution verloren wäre, und in Blixau kannte er lediglich das Schmanzl.
Am Eingang ließ Breitmauler seine Kreditkarte prüfen; dies war inzwischen zur Standardprozedur geworden, nicht nur hier. Zuvor hatte es viele Arbeiter und mittlere Angestellte gegeben, die sich auf eine Tasse Kaffee trafen und dann ihre Rechnung nicht begleichen konnten. Die Stadt hatte für sie sogar eigens eine Strafvollzugsanstalt einrichten müssen, da die bereits bestehenden hoffnungslos überfüllt waren.
Moser ließ auf sich warten. Weder er war ein Pünktlichkeitsfanatiker, noch war es seine Luftfahrtgesellschaft. Schon die verabredete Zeit war sehr vage: zwischen fünf und zehn im Schmanzl, und jetzt war es bereits halb zwölf.
Breitmauler befürchtete bereits, Moser sei von der Polizei oder, schlimmer noch, seinen Gegnern abgefangen worden. Das war jedoch unwahrscheinlich, da er fälschungssicher gefälschte Papiere bei sich hatte und ihn niemand, außer Breitmauler selbst, jemals zu Gesicht bekommen hatte.
Um fünf Minuten vor zwölf aber ging die Tür auf, und Moser, gefolgt von einer Schar von Autogrammjägern und Bittstellern, trat ein.
„Was für ein Tag", keuchte er, als er sich auf den Sessel neben Breitmauler fallen ließ. „Gestern Nacht die Besprechung mit den Weinbergsarbeitern bis in die frühen Morgenstunden, dann komme ich nach Hause und die Wohnung ist weg, und zu guter Letzt wird mein Abflug auf einen anderen Flughafen verlegt.
Ein Kännchen Kaffee und einen Cognac", winkte er dem Kellner.
„Um Himmels willen", fiel ihm Breitmauler in die Bestellung. „Haben Sie eine Ahnung, was das kostet?"
Moser öffnete sein Jackett, um die Fettmassen frei fließen zu lassen, und lächelte milde. „Noch ist die Revolution nicht am Ende."

Die Morgenröte kämpfte sich mühsam durch den Smog der Großstadt, und die Vögel im Park begannen zu schnarren. Die wirklichen Vögel waren längst verschwunden, und um die Atmosphäre des Wehrsportgruppe-Hoffmann-Parks zu erhalten, hatte man sie durch elektronische ersetzt - nur das Geld für die Wartung hatte man nicht auftreiben können oder wollen.
Noch war niemand auf der Straße, abgesehen von der volltrunkenen Soldateska, die über das nächtliche Ausgehverbot wachte.
„Wir sind verlorne Seelen, sind weder Mensch noch Tier, drum folgen wir Befehlen und trinken starkes Bier!" erscholl ihr Schlachtgesang durch die stillen Straßen Blixaus.
„Wir achten nicht das Leben, wir fürchten nicht den Tod, und die uns widerstreben, die füllen wir mit Schrot!"
Das Marschlied klang mit jedem Takt ein wenig dünner; das lag nicht etwa am nachlassenden Enthusiasmus der Soldaten, sondern einfach daran, dass nur wenige von ihnen der Herausforderung gewachsen waren, ganze acht Zeilen auswendig zu lernen.
Plötzlich bedeckte eine schwarze Wolke die aufgehende Sonne; die Soldaten sahen es nicht, führten ihre Kurzatmigkeit auf den vorangegangenen Alkoholkonsum zurück und legten sich zum Schlafen auf den Gehweg.
Als die ersten Bürger ihre Fenster öffneten (die sie des nächtlichen Lärms wegen allabendlich verschlossen), hatte sich das Gift bereits wieder verflogen.
„Der Tag der Freiheit ist gekommen", tönte es aus dem Radio und eigens aufgestellten Lautsprechern in der Stadt. „Blixau ist voll von toten Soldaten: nehmt ihre Waffen an euch und leistet den übrigen Widerstand!"
Unzählige Menschen stürmten nun aus ihren Häusern, stürzten sich auf die toten Soldaten und nahmen ihre Waffen in Besitz.
Anschließend bildete sich eine lange Menschenschlange vor der Kaserne; die Bürger lieferten dort die erbeuteten Waffen ab, damit sie nicht in falsche Hände gerieten.

„Wer das Volk befreien will", rügte Moser den misslungenen Plan, „der darf nicht auf das Volk zählen. Dem Volke sind die bestehenden Verhältnisse solange heilig, bis die Revolution die Oberhand gewinnt; erst muss die Regierung gestürzt werden, dann kann man an das Volk appellieren, sich befreien zu lassen!"
Mit diesem gut gemeinten Ratschlag verabschiedete sich Moser und bestieg sein Flugzeug, das ihn zum Treffen mit den Karawanenführern bringen sollte.
Breitmauler war enttäuscht: vom Volk, von Moser, vom Leben. Er wollte seinen Schmerz betäuben, aber wie?
Sein Unternehmen hatte ihm kürzlich eine hübsche Prämie ausgezahlt, weil es ihm gelungen war, einen wichtigen Großabnehmer für seine Abhöranlagen anzuwerben. Von diesem Geld, beschloss er nun, würde er sich ein Buch kaufen.
Für den Durchschnittsbürger waren Bücher inzwischen, wie vieles andere, unerschwinglich geworden. In diesem Jahr (mit dem heißesten Sommer seit hundert Jahren) mussten Familienväter gar damit beginnen, das Leitungswasser für ihre Kinder zu rationieren, nachdem die Wasserwerke den Preis verzehnfacht hatten und der Verbrauch im Voraus bezahlt werden musste.
Breitmauler blieb vor der Auslage im Schaufenster eines Buchladens stehen, und kaum hatte er seinen Schritt verlangsamt, als eine Stimme von innen fauchte: „Kann ich Ihnen behilflich sein?"
Wehmütig dachte er an die Zeit zurück, als man die Buchläden noch unbehelligt betreten konnte; der Verkäufer blickte vielleicht kurz von seinem eigenen Buch auf, um einen freundlichen Gruß zu nicken, und ließ einen dann stundenlang in allen Werken blättern, bis man etwas Interessantes gefunden hatte. Und falls man nichts fand, war es kein Problem, den Laden mit einem freundlichen Gruß wieder zu verlassen.
Heutzutage aber gab es kein Herumstöbern mehr; man musste schon vorher wissen, was man wollte, gab Titel und Autor an, bekam sein Buch, zahlte und ging. Die Auswahl war zwar so groß wie nie zuvor, und es gab auch systemkritische Werke (man lebte schließlich in einem freien Land), aber wem Titel und Autor nicht bekannt waren, der würde sie nie zu sehen bekommen.
Darüber hinaus war, zum Schutz von Autoren und Verlegern, das Verleihen sowie der Verkauf gebrauchter Bücher unter strengste Strafe gestellt.
Natürlich konnte man viele Bücher auch im Internet lesen; wenn man Titel und Autor eingab, erhielt man einige zehntausende von Websites, die das Werk beiläufig erwähnten, und eine davon war dann das Buch selbst. (Die korrekte Web-Adresse konnte man selbstverständlich nirgendwo anders herausbekommen.)
Breitmauler beschloss, seine Prämie anderweitig anzulegen und machte kehrt. Er kaufte sich eine Viertelliterflasche Rotwein und eine 50g-Portion Kaffee, ging nach Hause und braute sich einen Kaffee Ludwig (aufgebrüht wie ein gewöhnlicher Kaffee, nur nicht mit heißem Wasser, sondern mit heißem Rotwein).
Der bittere Geschmack synchronisierte seinen Gemütszustand. Wozu, fragte er sich, wozu tat er dies alles? Die ständige Angst, getötet oder - schlimmer noch - verhaftet zu werden, die ungeheure Energie, die er wesentlich sinnvoller - beispielsweise durch Bordellbesuche - verbrauchen könnte, die horrenden Mitgliedsbeiträge an Moser und seine Männer; und alles nur, um das Volk von einer Regierung zu befreien, die es selbst gewählt hatte.
Warum versuchte er überhaupt, dem Volk zu helfen? Weil er die fixe Idee hatte, die Masse sei im Grunde ihres Herzens ebenso anarchistisch und freiheitsliebend wie er selbst? Weil er sich einzureden versuchte, ihr Hang zur Hierarchie habe ihren Ursprung in ihrer entsprechenden Erziehung und nicht einfach in dem Trieb, jede Form von Verantwortung nach oben („Wir haben lediglich Befehle ausgeführt") oder unten („Wir konnten ja nicht ahnen, dass unsere Befehle derart fehlinterpretiert würden") zu delegieren?

Breitmauler träumte von einer zivilisierten Welt. Er hielt Menschen für unzivilisiert, die auf die Straße rotzen, ihren Müll fallen und ihre Köter auf den Gehweg scheißen lassen. Er hielt Menschen für unzivilisiert, die das Leben anderer riskieren, indem sie alkoholisiert Auto fahren, in Wohngebieten rasen und den Fußgängern an Zebrastreifen und grünen Ampeln den Vorrang nehmen. Er hielt Menschen für unzivilisiert, die mit Stereoanlagen und Walkmen ihre Nachbarn, Mitreisenden oder andere Verkehrsteilnehmer terrorisieren. Er hielt Menschen für unzivilisiert, die in Konzerten, Opern und im Theater schwatzen, hüsteln, telefonieren, mit den Kleidern rascheln, „Bravo" in den letzten Ton hineinrufen oder anderweitig die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen versuchen. Er hielt Menschen für unzivilisiert, die anderen ihre Meinung aufdrängen wollen sowie solche, die Kinder nicht als Individuen respektieren, sondern in ihnen lediglich einen Rohstoff zur Herstellung eines Erwachsenen sehen. Er hielt Menschen für unzivilisiert, die Hausfrauen als Märtyrer und Hausmänner als Schmarotzer betrachten, die es für richtig halten, dass Frauen, so sie überhaupt arbeiten, fünf Jahre vor den Männern pensioniert werden, und dass Männer nach der „alten Schule" die Frauen zu bedienen und zu finanzieren haben. Er hielt Menschen für unzivilisiert, die keine Ehrfurcht vor dem Leben und der Freiheit anderer haben, solche, die es für richtig halten, dass Männer die besten Jahre ihrer Jugend als Leibeigene der Regierung damit verbringen, das Töten anderer Menschen zu erlernen; jene dieser Männer, die, wo ihnen eine Alternative offen steht, sich für das Töten lernen statt für den Zivildienst entscheiden; solche, die es für richtig halten, dass eine Mutter bis zu einer bestimmten Schwangerschaftswoche ihr Kind umbringen lassen darf; solche, die es für richtig halten, dass Menschen, die in einem anderen Land leben wollen, abgeschoben werden dürfen.
Er war allein auf der Welt. Allein, umgeben von Milliarden Barbaren; warum nur suchte er ihre Gesellschaft und ihren Beifall? -
Er wusste es nicht.


© 6241 RT (2000 CE) by Frank L. Ludwig